Innovationstheorie

Prof. Dr. Wolfgang BurrHerr Professor Burr, Innovation ist heute ein Synonym für das Neue, Fortschrittlichere, Moderne – warum beschäftigen Sie sich dann auch mit der historischen Entwicklung der Innovationstheorie?

Das Innovative ist in die Zukunft gerichtet, es bedarf aber oft auch des Lernens aus dem Vergangenen, insbesondere dem Lernen aus Fehlern. Ohne Bewusstsein für geschichtliche Abläufe ist man verdammt, immer wieder die gleichen Fehler zu machen. Das gilt für einzelne Menschen und für Unternehmen und die Wissenschaft. Die Beschäftigung mit der Geschichte und den Entwicklungslinien eines Fachgebietes schärft auch das Bewusstsein für aktuelle Entwicklungen und ihre Relevanz für das Fach. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Innovationsforschung hilft auch bei der Bestimmung des eigenen Standpunktes und der eigenen Orientierung in der Forschung. Geschichtsbewusstsein hat auch mit Identitätsbildung zu tun. Wir lehren heute kaum noch die Geschichte der Betriebswirtschaftslehre bzw. der Innovationsforschung im Studium. Wie soll man dann junge Menschen mit ihrem zukünftigen Fachgebiet vertraut machen, sie fachlich sozialisieren, ihnen verdeutlichen, was einen Betriebswirt oder einen Innovationsforscher bzw. Innovationsmanager ausmacht, wenn man ihnen nicht mehr die fachliche Entwicklung der eigenen Disziplin nahebringt. Es fehlt heute zunehmend das Bewusstsein, dass das Fachgebiet Innovationsforschung in der vorliegenden Form uns nicht als fertiges Paket geschenkt wurde, sondern dass viele Forscher dafür vorher um Themen, Grundorientierungen, Methoden gerungen und akademisch gestritten haben. Wer sich mit der Geschichte eines Fachgebietes auseinandersetzt, merkt auch, dass bestimmte Strömungen manchmal nicht weiterverfolgt wurden oder abgerissen sind und dass es in der Wissenschaft genauso wie in der Wirtschaft für bestimmte Themen Lebenszyklen, um nicht zu sagen Modezyklen gibt. Im Volksmund sagt man: „Zukunft braucht Herkunft“: Wer nicht weiß, woher er kommt, tut sich schwerer, zu bestimmen, wo er steht und wohin er weiter gehen will.

Eine plakative Frage, die sich inzwischen jedes betriebswirtschaftliche Teilgebiet gefallen lassen muss: Besitzen die Theorien der Innovation überhaupt Relevanz für die Praxis oder handelt es sich um reinen „Denksport“ für Wissenschaftler?

Als theoretisch interessierter Forscher (der Begriff „Theoretiker“ hat heute nach meinem Empfinden leider einen etwas negativen Beiklang) ist man heute oft unter Rechtfertigungszwang. Bei vielen Menschen scheint die Vorstellung vorzuherrschen, dass theoretisch arbeitende Ökonomen in Abgeschiedenheit von der Welt in ihrer Studierstube Gedankengebäude von höchster Abstraktion entwickeln, sich an der Schönheit ihrer Modelle erfreuen und das reale Leben ausserhalb des Labors als störend, uninteressant oder irrelevant empfinden. Ich habe in den 20 Jahren meines Berufslebens in der Betriebswirtschaftslehre und in der Innovationsforschung keinen Menschen getroffen, der diesem Zerrbild eines Theoretikers entsprach. Im Kern liegt aber oft ein falsches Theorieverständnis vor: Wer von Theorien eindeutige Antworten auf konkrete Probleme erwartet, wird öfters enttäuscht werden. Theorien fördern aber Problembewusstsein und eröffnen spezifische Blickwinkel auf ein Untersuchungsobjekt, sie können damit kreative Denkprozesse anstoßen und bei der Einnahme anderer Sichtweisen und der Überwindung von Denkblockaden helfen. Gerade die Innovationsforschung ist immer sehr problem- und praxisnah gewesen, dies zeigt sich an zahlreichen Kooperationen zwischen Innovationsforschern und Unternehmen sowie der Problemnähe und empirischen Orientierung, die viele Innovationsarbeiten auszeichnet. Ich habe in der Praxis Manager getroffen, die sich in ihrem langen Berufsleben eine Vorstellung vom Funktionieren ihres Unternehmens erarbeitet haben, die sie bei vielen Entscheidungen heranziehen: Welche Kennzahlen sind die wichtigsten, worauf muss man erfahrungsgemäß achten, wenn man ein neues Projektteam zusammenstellt, worauf ist bei der Markteinführung eines neuen Produktes besonders zu achten? Man könnte sagen, dass diese Manager ihren Entscheidungen eine erfahrungsbasierte Sicht der Welt, eine Vorstellung vom Funktionieren ihres Unternehmens, ein Menschenbild (wie Menschen unter bestimmten Bedingungen handeln und funktionieren) zugrundelegen. Ohne diesen konzeptionellen Erfahrungshintergrund (man könnte auch von praktischer Theorie sprechen) könnten viele Praktiker gar nicht erfolgreich sein. Und es gilt das modifzierte Bonmot: Nicht ist praktischer als eine gute Theorie, sofern man von der Theorie nicht vorgefertigte Antworten und eindeutige Lösungen für alle Probleme erwartet und die Geduld aufbringt, sich mit ihr zu beschäftigen.

Daran schließt sich die Frage an, ob Innovationen in Form neuartiger Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse wirklich im betrieblichen Alltag plan- und steuerbar sind? In vielen Unternehmen hat man den Eindruck, dass Innovationen eher „zufällig“ entstehen.

Es gibt zahlreiche Beispiele zufällig entstandener Innovationen (Post-Its von 3M, Viagra von Pfizer, Entdeckung der Röntgenstrahlen etc.). Jedoch zu sagen, dass alles Zufall ist, wäre aber die Bankrotterklärung jeglichen Innovationsmanagements und eigentlich sogar der Unternehmensführung. Das andere Extrem sind Manager, die glauben, dass man nur die richtigen Anreiz- und Kontrollsysteme implementieren, genügend Finanzmittel und Personal bereitstellen und die Arbeitsprozesse im Labor richtig organisieren müsse, und schon würden die Innovationen auf Knopfdruck entstehen. Der Versuch, Innovationsmaschinen aufzubauen, die planmäßig und effizient die gewünschten Innovationen hervorbringen, wird scheitern, vor allem wenn das Ziel ist, wirklich radikale Innovationen hervorzubringen. Das wirklich Neue lässt sich schwer planen und organisieren. Der Rahmen, in dem Innovation stattfindet, ist aber sehr wohl gestaltbar und steuerbar durch Manager. Letztlich hängt sehr viel an der Kreativität, dem Know-how und dem Engagement der Menschen, die die eigentliche Entwicklungsarbeit im Labor oder bei der Überzeugung und Gewinnung des Kunden vor Ort im Markt leisten. Die Motivation dieser Menschen, die „Extra-Meile“ zu gehen oder Außerordentliches zu leisten, wird auch durch die Qualität der Menschenführung in einem Unternehmen bestimmt.

Sie haben gerade einen Sammelband zum State-of-the-Art der Innovations­theorie herausgegeben – dabei fällt auf, dass zahlreiche interessante Ansätze kaum mathematisch-formalisiert; zeichnet sich da die Renaissance der qualitativen, also theoretisch-konzeptionellen Forschung ab?

Niemand kann vorhersagen, in welche Richtung sich die Innovationsforschung entwickeln wird. Ob es eine Renaissance der thoretisch-konzeptionellen Forschung geben wird, ist aus heutiger Sicht unklar. Ich beobachte allerdings, dass die seit Jahren vorherrschende empirisch-quantitative Orientierung zunehmend auch an gewisse Grenzen stösst. Mit großem Aufwand werden Daten erhoben und mit anspruchsvollen ökonometrischen Methoden ausgewertet. Dabei werden die untersuchten Probleme und die erzielten Ergebnisse allerdings zunehmend spezialisierter. Es entstehen so empirische Arbeiten auf höchstem Niveau, aber der Aufwand für diese Art zu forschen ist sehr hoch und immer weniger Forscher können sich dies mit ihren gegebenen Budgets noch leisten. Daher auch der Zwang, immer größere Forschungsverbünde zu schaffen und Großprojekte in der Forschung zu organisieren. Es geht im Kern um eine Frage der grundlegenden Wissenschaftsorientierung: Theoretisch orientierte Forscher wollen ihr Untersuchungsobjekt, z. B. Wirtschaft oder das Innovationsgeschehen in Unternehmen, verstehen und interpretieren, sie setzen eine bestimmte Brille auf, mit der sie auf das Objekt des Interesses blicken und stellen Vermutungen über die Welt an, sie versuchen deduktiv Schlüsse zu ziehen. Empirisch orientierte Forscher wollen beweisen, dass ein bestimmter Zusammenhang in der vermuteten Form in der Realität gegeben bzw. nicht gegeben ist und unter welchen Bedingungen er gegeben ist. Eigentlich ergänzen sich diese zwei Forschungsorientierungen sehr gut, aber die Anforderungen der beiden Forschungsorientierungen sind doch sehr unterschiedlich. Daher ist das von mir herausgegebene Buch eben nicht nur ein Theoriebuch, sondern enthält auch zwei lange Beiträge über empirische Methoden und mehrere Beiträge über Konzepte, die auch Praxisrelevanz erreicht haben.

Wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Dr. Uwe Fliegauf.

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