Lernen mit Grundschulkindern

Praktische Hilfen und erfolgreiche Fördermethoden für Eltern und Lehrer

 

Autorengespräch mit Claudia Oehler und Armin Born.

Der Bestseller des Autorenduos „Lernen mit ADHS-Kindern“ erscheint nunmehr bereits 12. Auflage.

Portrait von Claudia Oehler
Claudia Oehler

Seit wie vielen Jahren, und in welchem Rahmen, arbeiten Sie als Psychologen und Pädagogen regelmäßig mit Kindern und Jugendlichen zusammen, die Lernschwierigkeiten aufweisen?

Wir arbeiten seit über 20 Jahren im Rahmen einer ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen bzw. kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischen Praxis mit Kindern, die neben Verhaltens- und emotionalen Problemen auch Lernschwierigkeiten aufweisen.

Welches sind die häufigsten Lernschwierigkeiten, denen Sie in Ihrer alltäglichen Arbeit begegnen?

Im Grundschulbereich finden sich vor allem Lese-, Rechtschreib- und Rechenschwächen und -störungen. In den weiterführenden Schulen zeigen die Kinder oft Probleme in den Fremdsprachen und in Mathematik. Häufig sind es Defizite im Basiswissen, die die Kinder in unsere Praxen mitbringen. Zentrale Lernschritte, wie z.B. der 10-er Übergang bei Additions- und Subtraktionsaufgaben in der Mathematik, werden häufig bis zum Ende der Grundschulzeit nicht beherrscht. Wenn Lücken im Fundament bestehen, können die darauf aufbauenden Fertigkeiten und Wissensinhalte auch nicht angemessen erlernt werden. Außerdem fällt es vielen Kindern schwer, den Lernstoff zu strukturieren, kontinuierlich zu arbeiten und mit überschaubarem Aufwand letztendlich effektiv zu lernen. Vielen Kindern fehlen auch das Durchhaltevermögen und die Motivation.

Wie groß ist der Anteil der betroffenen Kinder und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten unter ihren Patienten? Treten die Lernschwierigkeiten Ihrer Kinder und Jugendlichen dabei isoliert auf oder bilden sie zumeist einen Teil einen größeren, komplexeren Gesamtbildes?

Von unseren Patienten weisen ca. 60–80 % der Kinder und Jugendlichen Lernprobleme auf. Bei bestimmten Störungsbildern treten diese gehäuft auf, wie beispielsweise beim Vorliegen eines ADS oder ADHS. Zeigen Kinder Lernstörungen, finden sich meist auch emotionale Folgeprobleme wie Angst, Niedergeschlagenheit, Motivationslosigkeit oder Verhaltensprobleme in Form von Aggressivität und oppositionellem Verhalten. Lernschwierigkeiten belasten nicht nur die Kinder, sondern auch das gesamte Familienklima, insbesondere die Beziehung zur Mutter.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Verhaltens- und Lernproblemen?

Hier zeigen sich Zusammenhänge in beiden Richtungen. Lernprobleme mindern das Selbstwertgefühl und führen oft kompensatorisch zu Verhaltensproblemen. Bestehen Verhaltensprobleme, können diese die Lernbereitschaft vermindern und dann zu Misserfolgserlebnissen führen, was wiederum emotionale Probleme nach sich ziehen kann.

Können Sie rückblickend betrachtend eine Zunahme der betroffenen Kinder und Jugendlichen feststellen? Treten Lernschwierigkeiten heutzutage unter Kindern tatsächlich häufiger als früher auf oder gehen deren Eltern mit den Schwierigkeiten nur anders um?

Die Bedeutung der schulischen Leistungen als ein Auswahlkriterium für den beruflichen Werdegang nimmt in unserer Gesellschaft immer mehr zu. Schulische Lernanforderungen werden zunehmend komplexer und die schulischen Lernwege und -methoden, besonders im Grundschulbereich, sind unserer Auffassung nach für einen großen Teil der Kinder unpassend. Aus diesem Grunde führen sie dann, insbesondere auch bei schwächeren Kindern, systematisch trotz großen Elternengagements in eine Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche. Wir sehen häufig sehr engagierte Eltern, die aber aufgrund der geringen Transparenz, Stringenz und auch Ineffektivität der angebotenen Lernwege oft Hilflosigkeit und Frustration in dem Bemühen erleben, ihre Kinder zu unterstützen. Lernerfolg bzw. -misserfolg ist abhängig von den benutzten Lernwegen. Hier zeigt beispielsweise das zunehmend schlechtere Abschneiden von Schülern in Rechen- und Rechtschreibtests im Laufe der letzten Jahre, dass bestimmte Methoden tatsächlich zu mehr Lernschwierigkeiten und damit auch zu dem Entstehen von Teilleistungsschwächen beitragen.

Portrait von Dr. Armin Born
Dr. Armin Born

Ist es Ihnen möglich, kurz die wichtigsten Ursachen der Lernschwierigkeiten zu benennen, die Ihre Patienten mit zu Ihnen bringen? Lässt sich für diese ein Muster beschreiben, das auf die Mehrheit der betroffenen Kinder zutrifft?

Ursachen für Lernschwierigkeiten sind zum einen grundsätzliche Strukturen in unserem Schulsystem. Wir haben das Klassensystem, in dem alle Schüler auf den gleichen Lernweg geschickt werden, unabhängig davon, ob dieser für das einzelne Kind geeignet ist oder nicht. Dies erfolgt trotz der Vorgaben zur Binnendifferenzierung in den Lehrplänen. Als besonders problematisch empfinden wir, dass im Unterricht ein Lernangebot gemacht wird, jedoch zu wenig überprüft wird, was dieses „Angebot“ im Gehirn des Schülers tatsächlich zurücklässt. Plakativ ausgedrückt tragen Lehrerinnen und Lehrer nur die Verantwortung für ein Lernangebot, fühlen sich aber nicht im gleichen Maße dafür verantwortlich, was tatsächlich im Gehirn des einzelnen Schülers entsteht und was letztendlich von ihm gelernt wird.

In Ihrem Buch „Lernen mit Grundschulkindern“ sprechen Sie davon, dass sich viele Kinder mit Lernproblemen in einem Teufelskreis bewegen. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?

Betrachten wir die Kinder, wenn sie in die Schule kommen, so zeigen die allermeisten große Lernfreude und den Wunsch, sich neues Wissen und Fertigkeiten anzueignen. Erste Misserfolgserlebnisse, die unserer Ansicht nach häufig auch darauf zurückzuführen sind, dass die Standardlernmethoden nicht auf die jeweiligen besonderen Voraussetzungen der einzelnen Kinder zugeschnitten sind, führen dann zu einer negativen emotionalen Bewertung des Lernbereiches. Diese setzt sich zusammen aus negativ selbstbewertenden Gedanken, wie z.B. „Ich bin unbegabt“, „Ich bin blöd“, „Ich kann das sowieso nicht“ und Gefühlen, dem besonderen Lerngegenstand gegenüber, wie z.B. die häufig bei Mädchen anzutreffende Mathematikangst. Diese negative emotionale Bewertung wiederum führt zum Vermeiden und Verweigern in dem für das Kind schwierigen Lernbereich. Die ohnehin bestehenden Defizite vergrößern sich so zunehmend. Misserfolge häufen sich und die negativ emotionale Bewertung verfestigt sich weiter sowohl im Hinblick auf die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten als auch auf das Fach. Diese Teufelskreise führen dann letztendlich zu einer völligen Entmutigung und erheblichen Schulleistungsproblemen.

Welches sind wichtige Signale, auf die die Eltern achten sollten, damit es bei ihren Kindern gar nicht erst zu gravierenden Lernstörungen und Schulschwierigkeiten kommt?

Am Anfang der Grundschulzeit sind es oft gar nicht die Lernschwächen und -defizite die Eltern auffallen, sondern eher emotionale Veränderungen ihrer Kinder, wie das Zeigen von Unlust, Verweigerung, Ängste oder auch psychosomatische Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen. Dies sind typische Alarmzeichen, die ernst genommen werden sollten.

Zu welchem Zeitpunkt sollten Eltern eine professionelle Beratung aufsuchen und an wen sollten sie sich in der Regel zunächst wenden?

Wenn Kinder deutliche emotionale Veränderungen im Zusammenhang mit der Schule zeigen oder auch erkennbare Defizite in den zentralen Lernbereichen auftreten, sollten Eltern sich natürlich an erster Stelle an die Klassenlehrerin bzw. den Klassenlehrer wenden. Wenn es dann noch notwendig sein sollte, können Beratungslehrer, Schulpsychologe, Erziehungsberatungsstellen oder auch Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und kinderpsychiatrische Praxen hilfreich sein. Auch der Kinderarzt kann eine Anlaufstelle sein.

Welche Erfahrungen bringen Ihre Patienten von der Institution „Schule“ mit?

Die Erfahrungen im Kontext „Schule“ sind sehr unterschiedlich. Zum einen treffen Kinder, Jugendliche und Eltern auf zum Teil sehr engagierte Lehrer und Lehrerinnen, die sich um den Einzelnen oft sehr intensiv bemühen. Patienten werden aber auch mit Lehrern und Lehrerinnen konfrontiert, die nach wie vor die Einstellung vertreten „Wenn ich das bei jedem machen sollte …“.

Wie müsste sich heute eine Grundschule aufstellen, um ihren Lehrkräften und Kindern ein gemeinsames erfolgreiches Lernen zu ermöglichen?

Anzusetzen ist unbedingt zunächst in der Ausbildung, d.h. im Studium der Lehrerinnen und Lehrer. Hier sollte man sich unseres Erachtens von dem bisherigen einseitigen „Primat der Didaktik“ lösen, das oft unpassende Standardwege für die Schüler im Grundschulbereich hervorbringt. Vielmehr sollte man versuchen, Methoden zu entwickeln, die die besonderen Voraussetzungen des einzelnen Kindes berücksichtigen, um für jedes Kind die für es passenden und effektiven Lernwege einsetzen zu können. Grundlage dafür wäre, auch genaue Kenntnisse darüber zu vermitteln, wie Lernen überhaupt „funktioniert“, wie Lernprozesse und Abspeicherprozesse ablaufen und was ich als Lehrer/in dabei unbedingt zu beachten habe. Zu unserer Überraschung hören wir von Eltern, nachdem wir ihnen den Lernprozess erklärt haben, hierzu häufig: „Wissen das die Lehrer denn nicht?“ Auch die Bedeutung der emotionalen Bewertung sollte als zentrales Element des Lernens berücksichtigt werden. Auf dieser Grundlage könnte sich ein Schulsystem entwickeln, in dem das einzelne Kind im Mittelpunkt steht, mit dem Ziel, dass keines zurückbleiben soll, sondern die bestmögliche dafür passende Förderung erhält.

Über welche konkreten Möglichkeiten verfügen heute Lehrer, Kinder beim Lernen im Unterricht gezielt zu unterstützen und zu fördern?

Grundsätzlich hat jede Lehrerin, jeder Lehrer einen pädagogischen Freiraum, um sich der individuellen Voraussetzungen des einzelnen Kindes im Sinne einer Binnendifferenzierung annehmen zu können. So haben wir beispielsweise sehr gute Erfahrungen mit individuellen Absprachen zwischen Eltern, Lehrern und Therapeuten, z.B. bei den Hausaufgaben, aber auch bei spezifischen Lernwegen gemacht. Für engagierte Lehrkräfte bedeutet dies Mehrarbeit, die aber oft mit Freude und Stolz über Erfolgserlebnisse ihrer Schüler belohnt wird.

Inwiefern können Lernpsychologie und Gehirnforschung dazu beitragen unser Verständnis von den Lernprozessen unserer Kinder zu verbessern?

Lernpsychologie und Gehirnforschung stellen Grundlagenwissen über Informationsaufnahme, Gedächtnisprozesse und Motivationsbedingungen im Kontext des Lernens zur Verfügung. Aufgabe der „Wissensvermittler“ ist es dann zu reflektieren, auf welchen Wegen „Lernen“ auf den obigen Hintergründen erfolgreich sein kann. Für die Pädagogik bringt dieses Grundlagenwissen letztendlich nicht so viel Neues, es trägt aber dazu bei, bezüglich der Lernmethoden die Spreu vom Weizen zu trennen und Ineffektives auszumisten.

Was bedeutet dies ganz konkret auf die Methoden bezogen mit denen in Schule und Elternhaus gearbeitet und geübt werden sollte?

Lernmethoden müssen dahingehend überprüft werden, was sie im Gehirn des einzelnen Schülers bewirken oder überhaupt bewirken können. Aus diesem Reflektionsprozess lassen sich Grundprinzipien des Lernens ableiten, wie beispielsweise „weniger ist mehr“, die Suche nach einfachen Wegen mit vielen Wiederholungsdurchgängen, das Schaffen von schnellen Erfolgserlebnissen und damit auch das Ermöglichen der „Umpolung“ der negativen emotionalen Bewertung des Lerngegenstandes.

Wie wichtig ist es, dass sich Lehrer und Eltern regelmäßig und wechselseitig über die Schwierigkeiten ihrer Kinder austauschen? In welchem Rahmen können, ganz praktisch betrachtet, Eltern die Schule und Lehrkräfte die Elternhäuser unterstützen?

Eltern und Lehrer sollten nicht in wechselseitigen Schuldvorwürfen stecken bleiben, sondern an einem „Strang ziehen“, um letztlich konkrete Lösungswege im Interesse der Kinder zu finden. Eine enge Kooperation in wechselseitiger Wertschätzung und Respekt sowie das Bemühen, den Anderen zu würdigen, ist die Voraussetzung hierzu. Fortbildungen und Elternabende könnten dazu dienen, Eltern mehr Transparenz über die Lerninhalte und über die Systematik der Lernwege zu vermitteln. Informationen über die neuropsychologischen Grundlagen des Lernens können die Basis für die Suche nach passenden Umsetzmöglichkeiten für Lernmethoden, insbesondere bei schwächeren Schülern, bilden. Hier erscheint es günstig, sich auf einfache Lernwege für die unverzichtbaren zentralen Lerninhalte in der Schule und im Elternhaus zu einigen und diese auch gemeinsam den Kindern gegenüber zu vertreten, um diese aus den möglicherweise bestehenden Teufelskreis „Lernstörung“ herauszuholen. Wir sollten uns immer daran erinnern, dass Kinder von sich aus so gerne gut in der Schule sein möchten. Helfen wir ihnen dabei durch passende Lernwege.

Armin Born/Claudia Oehler
Lernen mit Grundschulkindern
Praktische Hilfen und erfolgreiche Fördermethoden für Eltern und Lehrer

2017. IV, 212 Seiten mit 73 Abb. und 1 Tab. Kart.
€ 22,–
ISBN 978-3-17-031196-1

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