Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger‑Syndrom

 

Im Folgenden ein Interview mit Frau Dr. Preißmann über ihr Werk „Psycho­therapie und Beratung bei Menschen mit Asperger-Syndrom“. 2007 in erster Auflage erschienen, liegt es mittler­weile bereits in fünfter Auflage vor und wird als wichtiger Beitrag zur erfolg­reichen Gestal­tung von Therapien geschätzt.

Portrait von Christine Preißmann
Christine Preißmann

Frau Dr. Preißmann, Sie haben Medizin studiert, den Facharzt in Notfall­medizin gemacht und später eine Ausbildung zur Psycho­therapeutin. Gab es ein Schlüssel­erlebnis, das Sie dazu gebracht hat, sich näher mit der Psyche des Menschen auseinander­zusetzen?

Ja, es gab eine langjährige eigene Erfahrung mit einer psycho­therapeu­tischen Behand­lung, die mir auch heute noch eine sehr wichtige Stütze ist und von der ich sehr profitiere. Ich erkannte erstmals, dass es nicht reicht, sich mit der körper­lichen Seite zu beschäftigen, wenn man Menschen gut behandeln will. Deshalb habe ich beide Rich­tungen kombiniert und würde das auch wieder so machen.

Im Alter von 27 Jahren wurde bei Ihnen die Diagnose des Asperger-Syndroms gestellt, können Sie in ein paar kurzen Sätzen zusammenfassen, was dieses Störungs­bild ausmacht?

Das Asperger-Syndrom ist eine Erkrankung aus dem autistischen Spektrum. Die betroffenen Menschen haben meist große Schwierig­keiten im Kontakt mit anderen Menschen. Es fällt uns schwer, auf andere Menschen zuzu­gehen, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen und in Kontakt zu bleiben. Wir haben daher meist nur wenige freund­schaftliche Beziehungen und sind oft sehr isoliert. Hinzu kommen viele Ängste im Alltag, beispiels­weise bei Veränderungen oder uner­warteten Ereignissen. Wenn man nicht weiß, was einen erwartet, bereitet das große Angst. Nicht selten reagieren Menschen mit Asperger-Syndrom dann mit Wut­ausbrüchen, die anderen Menschen in erster Linie als Ungezogen­heit erscheinen, nicht aber als Ausdruck großer Furcht. Und auch mit den Sinnes­organen haben wir oft Probleme, viele Reize sind für uns so stark, dass wir sie kaum aushalten können (Gerüche wie Deodorants, Sonnenlicht, Lärm etc.). Es resultieren Schwierig­keiten in allen Lebensbereichen und in allen Altersstufen.

Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger-Syndrom, so lautet der Titel Ihres Werks. Welche Schwierig­keiten können sich beispiels­weise in der Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Patienten mit Asperger-Syndrom ergeben?

Viele autistische Menschen sind anfangs kaum in der Lage, eine Beziehung einzugehen, sie wirken auf ihr Gegen­über abweisend und unnah­bar. Erst wenn man sich näher mit ihnen beschäftigt, erkennt man die hochsensible, schutzbedürftige und einsame Seite, und man bemerkt, dass wohl­wollende Hilfs­angebote gern angenommen werden und die Betroffenen davon auch sehr profi­tieren können.

Welche Themen spielen in der Psycho­therapie und Beratung bei Menschen mit Asperger-Syndrom eine besondere Rolle?

Die Themen sind natürlich so vielfältig wie die Menschen selbst. Das fängt bei der Schule an und geht über Arbeit und Beruf, Wohnen, Freizeit, Freundschaft und Partner­schaft bis hin zu Begleiterkrankungen und Krisen. Für die Neu­auflage wurden viele Kapitel aktualisiert und ergänzt, ins­besondere zeigt sich das Kapitel „Krisen­situationen“ völlig über­arbeitet. Neu hinzugefügt wurden Aus­führungen zur geschlechts­spezifischen Beratung von Menschen mit Autismus, ein Thema, das bislang völlig vernachlässigt wurde. Im größeren Rahmen thema­tisiert wurde außer­dem innerhalb des Kapitels „Schule“ die Forderung nach einer inklusiven Bildung für alle Menschen.

Frau Preißmann, Sie halten immer wieder Vorträge zum Thema Autismus und Asperger. Wie ist das für Sie als Betroffene, mit den vielen Menschen und dem Stress umzugehen?

Es ist anstrengend, ganz klar. Vor allem aber ist es einfach wahn­sinnig schön und bereichernd. Es gibt mir sehr viel Kraft, wenn ich die Rück­meldung erhalte, dass ein Teilnehmer nun autistische Menschen sehr viel besser verstehen kann. Das ist das größte Lob und das schönste Geschenk.

Autismus - bei Kohlhammer

Mit Ihren Vorträgen klären Sie über das Krankheits­bild auf und möchten die Menschen dazu ermutigen, sich ein realistisches Bild von Menschen mit Autismus zu machen. Welche Punkte sind Ihnen bei Ihren Vorträgen noch wichtig?

Es ist mir wichtig zu betonen, dass es sich lohnt, ein unverständliches Verhalten zu hinterfragen, statt es sofort zu verurteilen. Autistische Menschen sind in der Regel aus­gesprochen liebens­werte Menschen, denen es fern liegt, anderen weh zu tun. Oft sind es Miss­verständ­nisse, die zu einer krisenhaften Zuspitzung führen, oder kleine Anliegen, für die man leicht eine Lösung finden kann. Manchmal wirken wir ungezogen, dabei sind es Unsicher­heit und Angst, die unser Verhalten bestimmen.
Und auch die realitive Normalität ist mir wichtig zu betonen. Oft entsteht in den Medien ein falsches Bild von autis­tischen Menschen. Meist sind es rätselhafte Sonder­begabungen, die Aufmerk­samkeit erregen. Oder man stellt sich das Kind „unter der Glas­glocke“ vor, das schaukelnd in der Ecke sitzt und keinerlei Kontakt aufnehmen kann. Das alles gibt es natürlich, aber die meisten von uns sind ganz unspektakuläre Menschen, die nur ein bisschen anders sind als andere, die ihren Platz in dieser Welt suchen, die integriert werden möchten und inte­griert werden können.

Was möchten Sie dem Leser noch mit auf den Weg geben, bevor er Ihr Buch aufschlägt?

Es war mir wichtig, ein Buch zu schreiben, das sowohl Fachleute wie Ärzte, Therapeuten, Pädagogen oder Sozial­arbeiter als auch Angehörige autis­tischer Menschen und Interessierte mit Gewinn lesen können. Die Kombi­nation aus eigenen Erfahrungen und wissen­schaftlichen Erkenntnissen, aus Fach­informationen und der Schil­derung von Hilfe­bedarf aus Betroffenen­sicht entspricht der Tendenz in der modernen Psychiatrie, Betroffene als Experten in eigener Sache aktiv in alle Entschei­dungs- und Behandlungs­bereiche einzubeziehen.

Herzlichen Dank für das Interview, Ihre Zeit und Mühe.

Das Interview führte Joanna Amor.


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Dr. med. Christine Preißmann bei der 14. Fachtagung des IVS-Nürnberg (2016) über das Thema: Psychotherapie und Asperger-Autismus


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2016 war Dr. med. Christine Preißmann zu Gast bei „Bärbel Schäfer – der Sonntagstalk in hr3“

Christine Preißmann
Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger-Syndrom
Konzepte für eine erfolgreiche Behandlung aus Betroffenen- und Therapeutensicht

5. Auflage 2023. 179 Seiten. Kart.
€ 36,–
ISBN 978-3-17-044063-0

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Folgende weitere Bücher von Dr. Christine Preißmann sind erhältlich:

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