Die Hausarztpraxis von morgen

Die Autorinnen und Autoren über ihr neues Werk

Dr. Iris Veit, Hausärztin im Ruhrgebiet, Psychotherapeutin, Lehrbeauftragte der RUB-Bochum.
Harald Kamps, Hausarzt und Lehrbeauftragter in Norwegen und Deutschland.
Prof. Dr. Bert Huenges, Hausarzt, Leitung des Kompetenzzentrums Weiterbildung Allgemeinmedizin Westfalen-Lippe.
Dr. Torsten Schütte, Hausarzt in einer Gemeinschaftspraxis im Süden Deutschlands, Facharzt für Innere Medizin, Lehrtherapeut für Neurolinguistisches Programmieren.

Sie stellen am Anfang gleich eine große Frage: Was ist ein guter Arzt, bzw. eine gute Ärztin – welche Eigenschaften und Fähigkeiten sind dafür erforderlich?

Huenges: Die schottischen Universitäten beschrieben ein Modell, das drei ineinander liegende Kreise umfasst: im inneren Kreis steht „Doing the right thing“ – dieser steht für die kognitiven Inhalte, im mittleren „Doing the thing right“ – dieser steht für Fertigkeiten und Fähigkeiten, und im äußeren Kreis: „The right person doing it“ – dieser drückt die professionelle Grundhaltung des Arztes aus. Das Bild ist für mich auch 18 Jahre nach Veröffentlichung noch aktuell.
Veit: Gute Hausärzte versuchen, Zusammenhänge zu sehen. Sie versuchen zu verstehen, wie jemand geworden ist, wie er ist und was ihn jetzt bewegt in seiner Familie, im Arbeitsumfeld oder in der Nachbarschaft. Sie reflektieren ihr Wissen als Experten und denken über eigene Werte, Glaubenssätze, eigene innere Bilder und Gefühle nach. Damit sie in der Lage sind, eine kooperative Beziehung zu ihren Patienten aufzubauen und zu halten.
Schütte: Nach einer Umfrage unter Patienten ist eine gute Ärztin bzw. ein guter Arzt jemand, der mitfühlend ist, respektvoll, persönlich und menschlich. Aber auch selbstbewusst, gründlich und jemand, der nicht lange um den heißen Brei herumredet. Damit ist die Fähigkeit, gut zu kommunizieren, als Kernbestandteil jeder ärztlichen Behandlung angesprochen. Gelungene Kommunikation ist wichtig sowohl für den Behandlungserfolg wie für die ärztliche Berufszufriedenheit. Gute Ärzte sind gute Kommunikatoren.
Kamps: Eine gute Hausärztin oder guter Hausarzt ist für mich eine Person, die sich verbunden fühlt mit dem Dorf oder dem Kiez, in dem sie arbeitet. Durch diese Verbundenheit entsteht die soziale Verantwortung, denjenigen Menschen am meisten zu helfen, die es am dringendsten brauchen. Der „gute Arzt“ hat mehr Zeit für chronisch kranke Menschen oder auch für arme Menschen. Dafür braucht es Geduld – schnelle Erfolge belohnen diese Arbeit nicht.
Eine gute Ärztin oder ein guter Arzt muss zudem mit Unsicherheit und eigenen Fehlern umgehen können. Jeder gute Arzt macht Fehler – er muss damit offen umgehen können, ebenso mit der Unsicherheit, die hausärztliche Entscheidungen so oft begleiten. Geübt werden muss selbstkritisches Handeln.

Was macht den Beruf des Hausarztes/der Hausärztin so komplex und herausfordernd?

Veit: Wir versuchen, das Umfeld eines Kranken und seine Geschichte einzubeziehen, wenn wir ihn verstehen wollen. Meistens haben wir Hausärzte auch einen Teil seiner Geschichte und seiner Umwelt als weitere Patienten live in unserer Praxis. Und wir wollen eine Beziehung, die die ersten Kontakte überdauert. Und wir wollen Entscheidungen gemeinsam mit unseren Patientinnen und Patienten treffen, sachgerecht und mit Respekt vor deren Zielen. Das stellt hohe Ansprüche an unsere kommunikative Kompetenz.
Mehr noch: Wir sehen, dass die Lösung vieler soziale Probleme unserer Kranken nicht in unserem Machtbereich liegt, und dennoch wollen wir fürsorglich sein. Kooperation mit anderen Berufsgruppen wie z.B. Sozialarbeitern in unseren Praxen und gute Verbindungen zu kommunalen Hilfen gehören zu unserem Arbeitsfeld und wird neue Versorgungsformen notwendig machen.
Schütte: Ich möchte die Zusammenarbeit mit anderen unterstreichen, die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen und im Team der eigenen Praxis. Jede Hausärztin oder Hausarzt muss persönliches Wissen und persönliche Erfahrung mit dem aktuellen medizinischen Wissen für jeden Patienten aktuell abgleichen. Allein das ist schon eine hochkomplexe Aufgabe. Er muss dabei die persönliche Verantwortung für die medizinischen Maßnahmen übernehmen. Die Risiken müssen gegenüber dem Nutzen individuell abgewogen werden. Um diese anspruchsvollen Aufgaben bestmöglich lösen zu können, bedarf es der Unterstützung durch ein effektives, gut organisiertes Team. Die Effektivität eines Teams lässt sich durch das Modell einer lernenden Organisation verbessern. Das Modell beschreiben wir in unserem Buch.
Huenges: Um die Komplexität noch anzureichern, wir müssen die Allgemeinmedizin nicht nur praktizieren, sondern dies auch an die Ärztinnen von morgen weitergeben – das bedeutet, dass wir uns in solchen Momenten hochgradig selbst reflektieren und erklären können, um ein glaubhaftes Rollenmodell zu sein.

Sie beschreiben den Hausarztberuf als in einer Zeit des Wandels begriffen – worin liegen die größten Veränderungen, denen Hausärzte/-innen dabei begegnen?

Veit: Soziale Ungleichheit nimmt zu und damit auch gesundheitliche Ungleichheit. Die Zahl chronisch kranker Menschen, armer und alleinlebender, alter Menschen wird wachsen. Dann wird der Klimawandel Hausärzte vor ungeahnte Aufgaben stellen. Zur gleichen Zeit streben immer mehr Menschen nach einer optimalen individuellen Selbstverwirklichung. Social Media hat dazu beigetragen. Und Gesundheit und ihre Kontrolle wird in diese „Selbstoptimierung“ eingebaut.
Auch auf hausärztlicher Seite sind Veränderungen eingetreten. Die Zahl der Frauen nimmt zu und auch deshalb der Wunsch nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance.
Kamps: Im Gesundheitswesen gilt jetzt die Devise: digital vor ambulant vor stationär. Im besten Fall führt diese Entwicklung zu gut informierten Patientinnen und Patienten, zu einem besseren Service und einer besseren Vernetzung aller im Gesundheitswesen Arbeitenden. Diese Entwicklung muss durch hausärztliches Denken geprägt werden, sonst löst Google alle Probleme.

Wie können Hausärztinnen und Hausärzte von morgen auf ihre Rolle vorbereitet werden?

Huenges: Nach dem Wandel der Lehr- und Lernkultur durch unterschiedliche innovative Ansätze zur Reform des Medizinstudiums wie dem problemorientierten Lernen erleben wir jetzt den Trend hin zur kompetenzorientierten Aus- und Weiterbildung. Die Rolle der Hausärztin von morgen ist nicht mehr die der alles Wissenden, sondern die einer Vermittlerin mit Hirn, Herz und Hand zwischen Menschen und Medizin. Die Hausärztin von morgen ist eine Teamplayerin mit reflektiert trainierten Schlüsselkompetenzen in der Informationsgewinnung und -Vermittlung an den Patienten. Wir müssen weg von der Vermittlung lexikalischer Kenntnisse in der Ausbildung hin zur Etablierung einer Lerner-zentrierten Weiterbildungskultur auf Augenhöhe mit jungen Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher biografischer Hintergründe. Schlüsselbegriffe dazu sind die fallbasierte interaktive Aus- und Weiterbildung in Kleingruppen, Mentoring und – vielleicht als wichtigstes Element – die Selbstreflexion und Weiterbildung der Weiterbildenden.

Sie gehen im Buch auch – ganz aktuell – auf die Corona-Pandemie ein. Gibt es etwas, was wir aus dieser Pandemie aus der hausärztlichen Perspektive lernen können?

Veit: Die hausärztliche Versorgung hatte und hat große stabilisierende Bedeutung, wenn sie auch nicht ausreichend wahrgenommen wurde. Der ungehinderte Zugang zur medizinischen Versorgung für alle hat Sicherheit geschaffen und sollte unbedingt gewahrt bleiben.
Kamps: Der Markt wird nicht alles lösen – im Gegenteil. In der Corona-Pandemie war es gut, einen handlungsfähigen Staat zu erleben, der dafür gesorgt hat, für viele Menschen existenzielle Bedrohungen zu lindern. Für Hausärzte bleibt es wichtig, in einem Gesundheitswesen zu arbeiten, das sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt.
Veit: Die Pandemie zeigt unsere umfassende Abhängigkeit voneinander. Sie ist ein Beispiel für komplexe Phänomene, mit denen wir besser umgehen können, wenn wir Kooperation suchen. Das gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Institutionen.

Bei allen Herausforderungen und Problemen – was macht andererseits für Sie den besonderen Reiz aus, als Hausärztin/Hausarzt tätig zu sein?

Schütte: Besonders reizvoll an der Hausarzttätigkeit ist die individuelle, persönliche Begegnung zwischen Patienten und Arzt.
Kamps: Beim Facharzt kommen und gehen die Patienten, die Krankheiten bleiben – beim Hausarzt kommen und gehen die Krankheiten und die Patienten bleiben. Das macht jeden Tag in der Hausarztpraxis überraschend und spannend.
Huenges: Ich gehe jeden Tag fröhlich in die Praxis und auch guter Dinge wieder nach Hause im Wissen, sinnvolle und sinnstiftende Dinge getan zu haben.
Veit: Im Ruhrgebiet würde man als Antwort formulieren: Es sind meine Leute! Beziehungen stiften Sinn.
Der Vielseitigkeit unseres Berufs und der Komplexität der Versorgungsaufgabe versuchen wir uns mit diesem Buch anzunähern.

Vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe!

Neu!

Veit/Kamps/Huenges/Schütte
Die Hausarztpraxis von morgen
Komplexe Anforderungen erfolgreich bewältigen
Ein Handbuch

2021. 198 Seiten mit 17 Abb. Kart.
€ 29,–
ISBN 978-3-17-035086-1

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