Allzu leicht nehmen wir die Herrschaftsform, in der wir leben, als selbstverständlich wahr. Zudem ist sie so populär, dass selbst ihre Gegner sich gern mit dem Etikett „Demokratie“ schmücken wollen. Doch was eine Demokratie ausmacht, ist schwer zu beantworten. Wann handelt es sich noch um unterschiedliche Formen von Demokratie und was ist schon eine „Verfallsform“, eine Demokratie mit Einschränkungen? Kann man die Qualität von Demokratie messen? Und was verstehen eigentlich die Bürgerinnen und Bürger darunter? Susanne und Gert Pickel geben zu diesen und verwandten Fragen einen prägnanten und fundierten Überblick.
Lesen Sie erste Eindrücke in unserem Interview.
Gert Pickel/Susanne Pickel
Demokratie
2022. 158 Seiten, 8 Abb., 18 Tab. Kartoniert. € 28,–
ISBN 978-3-17-032811-2
Frau Prof. Dr. Pickel, Herr Prof. Dr. Pickel, vielleicht ist jüngst durch den Ukrainekrieg vielen Deutschen noch einmal sehr direkt bewusst geworden, dass eine freiheitliche Staatsform keine Selbstverständlichkeit ist. Ist Russland eigentlich eine Demokratie? Gewählt wird ja und Putin genießt regelmäßig hohe Zustimmungswerte…
Mit Blick auf die Kriterien einer Demokratie – Freiheit, Gleichheit und politische Kontrolle –, die Pressefreiheit, Meinungsfreiheit oder Organisationsfreiheit erst ermöglichen, kann man sicher sagen, dass Russland keine Demokratie ist. Russland wird auch von verschiedenen wissenschaftlichen Messungen zur Bestimmung von Demokratie und Autokratie eindeutig als Autokratie klassifiziert. Es reicht nicht aus, dass es Wahlen gibt, wenn es eben keine freien Wahlen sind, weil KandidatInnen ausgeschlossen oder erst gar nicht zugelassen werden. Wenn die Medien gleichgerichtet sind und nur einen Kandidaten, nämlich Wladimir Putin unterstützen, sind auch keine gleichen und fairen Möglichkeiten gegeben, für sich als KandidatIn zu werben.
Historisch gesehen war die Verbreitung der Demokratie auf der Welt eine Sache von „Wellen“. Können Sie die Entwicklung kurz umreißen? In was für einer Phase befinden wir uns aktuell?
Der Gedanke der Demokratisierung in Wellen geht auf Samuel Huntington zurück. Seine Beobachtung war, dass sich die Demokratie in bestimmten Regionen der Welt immer sprunghaft, also in Wellen ausbreitete. Die erste Welle umfasste u. a. die USA und Frankreich, die zweite europäische Länder der Nachkriegszeit und die dritte Welle u. a. Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Sozialismus. Ob die „bunten Revolutionen“ als eine eigene, vierte Welle der Demokratisierung angesehen werden sollten, wird diskutiert. Über die heutige Situation ist man sich in der Demokratieforschung uneinig. Es gibt unterschiedliche Positionen, ob man sich gerade in einer Gegenwelle zur dritten bzw. vierten Welle der Demokratisierung befindet oder in einem konsolidierten Zwischenstadium.
Im Buch beschäftigen Sie sich ja auch mit dem Demokratieverständnis der Bürgerinnen und Bürger. Können Sie kurz schildern, was es für Unterschiede zwischen der öffentlichen Meinung und den Demokratiemerkmalen aus Sicht der Wissenschaft gibt?
Die Unterschiede sind gar nicht so groß. Die BürgerInnen erkennen die Eigenschaften einer liberalen Demokratie durchaus, wenn sie sie sehen – überall auf der Welt. Sie können sie nur unterschiedlich gut von nicht-demokratischen Eigenschaften politischer Ordnungen unterscheiden. Je später sie mit den Vorstellungen der westlichen Demokratie in Berührung kamen, desto schlechter gelingt dies. Fragt man die BürgerInnen ohne Vorgaben danach, was eine Demokratie ausmacht, dann betonen sie meist Freiheitsaspekte, gefolgt von sozialer und politischer Gleichheit. Politische Kontrolle oder Gewaltenteilung kommen seltener vor. Ein Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Sicht und der öffentlichen Meinung liegt also darin, dass die Wissenschaft stärker differenziert und die BürgerInnen Demokratie intensiver mit Freiheit verknüpfen.
Einführungen in das Thema Demokratie gibt es doch einige – was zeichnet Ihr Buch aus?
Das vorliegende Buch zeichnet seine starke Ausrichtung auf die empirischen Ausprägungen der Demokratie aus. So werden z. B. die Möglichkeiten der Bestimmung des Demokratiegrades über Messungen ausführlich und nachvollziehbar behandelt. Auch die gesonderte Betrachtung der ausgesprochen diversen Verständnisse von Demokratie gehört zur Besonderheit dieses Bandes. Letztlich ist die empirische Demokratieforschung unserer Referenzpunkt, den wir durchaus theoretisch verankert angehen.
Im Laufe des Jahres soll ein weiteres Buch aus Ihrer Feder in unserem Verlag erscheinen, „Der Bürger in der Demokratie“ – mit welchen Phänomenen werden Sie sich darin auseinandersetzen?
Dort wird die hohe Relevanz der BürgerInnen für eine lebendige und stabile Demokratie zum Tragen kommen. Dies impliziert neben der politischen Partizipation auch die Vorstellungen von Demokratie und über Demokratie sowie die Grundlagen einer demokratischen politischen Kultur. Aber auch Verfahren der Bürgerbeteiligung, der Deliberation und die wachsende Bedeutung der Zivilgesellschaft werden in diesem Buch ihren Platz finden. Letztlich ist es ja die entscheidende Besonderheit, dass in der Demokratie die BürgerInnen der Souverän sind. Aufgrund der Vielzahl der interessanten Aspekte, eine Demokratie zu beschreiben, konnten wir nicht alle Blickwinkel in einem Band abhandeln. Wir freuen uns schon auf das Erscheinen.
Das Interview mit Prof. Dr. Susanne Pickel und Prof. Dr. Gert Pickel führte Dr. Julius Alves aus dem Lektorat Geschichte/ Politik.
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