Veranlagung, Erziehung oder die Schönheitsideale in unserer Gesellschaft: Wo sehen Sie die Hauptursachen der Anorexia nervosa? Welchen Wandel hat das Wissen um die Ursachen dieser Erkrankung in den letzten Jahren durchlaufen?
Während man noch vor 10 bis 15 Jahren davon ausging, dass die Hauptursache der Anorexia nervosa in dysfunktionalen familiären Beziehungen lag und das Kind mit seiner Essstörung vor allem als Symptomträger angesehen wurde, hat sich diese Einstellung wesentlich geändert. Familienstudien machen das hohe genetische Risiko für die Anorexia nervosa deutlich. So haben weibliche Verwandte ersten Grades von Patientinnen und Patienten mit Anorexia nervosa ein 11 Mal höheres Risiko, an einer Essstörung zu erkranken. Wesentliche Erkenntnisse haben sogenannte genomweite Assoziations-Studien gebracht, bei der über das gesamte Genom verteilt 8 bedeutsame chromosomale Regionen für die Anorexia nervosa gefunden werden konnten. Familiäre Faktoren, z. B. dass in der Familie dem Essen oder der Figur besonders viel Bedeutung zukommt, haben vor allem eine Bedeutung als auslösende Faktoren und können auch zur Aufrechterhaltung der Erkrankung beitragen.
Fernsehsendungen wie „Germany’s next Topmodel“ sind bei weiblichen Jugendlichen äußerst beliebt, stehen aber auch sehr in der Kritik. Welche Rolle spielen solche Medienformate aus Ihrer Sicht bei der Entstehung von Magersucht. Hat die Häufigkeit von Essstörungen im Zusammenhang mit den modernen Medien zugenommen?
Sendungen, wie „Germany’s next Topmodel“, jedoch vor allem auch viele Internetseiten, die Diät, Workouts oder bestimmte Schlankheitsideale propagieren, stellen insbesondere für Mädchen (und Jungen), die eine Veranlagung für diese Erkrankung haben, eine große Gefahr dar. So wissen wir von Auswertungen der Sendung „Germany’s next Topmodel“, dass sehr dünne Mädchen, die die Sendung sahen, hinterher noch mehr Druck empfanden, weiter an Gewicht abzunehmen. In der Klinik sehen wir, dass viele Patientinnen den genannten Internetseiten völlig unkritisch gegenüberstehen und alles dafür tun, ihrem „Ideal“ ähnlicher zu werden.
In Ihrem Buch „Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen“ erklären Sie, wie die Darmflora dazu beiträgt Über- oder Untergewicht aufrecht zu erhalten, aber auch Gehirnfunktionen wie Kognition und Affekte beeinflussen. Wie funktioniert das? Ergeben sich aus diesen Erkenntnissen neue Perspektiven für die Therapie der Adipositas und der Magersucht?
Bei dieser Forschung stehen wir noch ganz am Anfang. Wir wissen, dass bestimmte Bakterienarten im Darm von adipösen Menschen besonders häufig vertreten sind und es den Betroffenen schwermachen, an Gewicht zu verlieren. Umgekehrt wissen wir auch, dass die Darmflora bei Menschen mit Anorexia nervosa sich sehr deutlich von der gesunder Menschen unterscheidet und sich leider auch nicht mit der Gewichtszunahme normalisiert. Veränderungen des Mikrobioms (Darmflora) gibt es auch bei anderen psychischen Erkrankungen, wie z. B. bei der Depression; andererseits kann auch andauernder Stress die Darmflora verändern. In Bezug auf therapeutische Maßnahmen stehen wir noch ganz am Anfang. Bei den Veränderungen des Mikrobioms handelt es sich auch sicher nicht um die Ursache der Magersucht, sondern wahrscheinlich nur um ein Mosaiksteinchen bei ihrer Entstehung und Chronifizierung. Trotzdem hoffen wir, mit neuen Erkenntnissen auf diesem Gebiet auch zur Verbesserung der Heilungschancen beitragen zu können.
Inwieweit hat die COVID-19-Pandemie seit Anfang 2020 die Situation essgestörter Kinder und Jugendlicher und deren Familien verändert?
Die COVID-19-Pandemie hat einen großen Einfluss auf die Erkrankung an Magersucht, gerade bei Kindern und Jugendlichen. So gibt es eine erhebliche Zunahme der Krankenhausbehandlungen bei kindlicher und jugendlicher Anorexia nervosa, die wahrscheinlich mit den beiden Lockdowns zusammenhängt. Eine ähnliche Beobachtung wurde auch in anderen europäischen Ländern gemacht. Zusätzlich kam es bei vielen Patientinnen und Patienten mit einer vorbestehenden Essstörung zu einer Verschlechterung der Symptome. Wir müssen gut überlegen, wie wir einer Erkrankung an Magersucht in Krisenzeiten besser vorbeugen können und wie wir ihre Früherkennung verbessern.
Wie stellt sich aus Ihrer Sicht die aktuelle Versorgungslage von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen dar, worin bestünden ggf. Möglichkeiten, diese deutlich zu verbessern und welchen spezifischen Beitrag könnten aus Ihrer Sicht Ärztinnen und Ärzte sowie Psychologinnen und Psychologen dazu leisten?
Im Gegensatz zu anderen Ländern, wie z. B. England, ist die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Magersucht in Deutschland wesentlich schlechter. Zum einen dauert es bei manchen Patientinnen immer noch viel zu lange, bis die Diagnose gestellt wird. In vielen Fällen dauert es auch zu lange, bis die Patienten nach einer stationären Behandlung einen Therapieplatz erhalten. Zudem ist in Deutschland die Dauer der stationären Behandlung im Kinder-und-Jugendlichen-Bereich im Vergleich zu anderen Ländern viel zu lange, ohne dass wir deshalb bessere Erfolge erzielen. Wir müssen uns daher unbedingt um neue Therapieformen kümmern, z. B. neue psychotherapeutische Verfahren, aber auch um andere Behandlungssettings, die die Familie der Patienten viel mehr einbeziehen, wie z. B. die Tagesklinik oder das Home Treatment.
In der zweiten Folge des Podcasts „FasziÂnation Medizin“ (Juni 2021) der Uniklinik RWTH Aachen spricht Univ.-Prof. Dr. med. Beate Herpertz-Dahlmann über ihren persönÂlichen Werdegang, warum sie sich mehr Frauen in der ForÂschung wünscht und worin die Freuden und SchwierigÂkeiten im Umgang mit erkrankten Kindern und JugendÂlichen liegen.
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Beate Herpertz-Dahlmann/Anja Hilbert (Hrsg.)
Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Ein klinisches Handbuch
2022. 220 Seiten mit 12 Abb. und 17 Tab. Kart.
€ 49,–
ISBN 978-3-17-039202-1
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