Heavy Metal ist für mich ein trotziges „Trotzdem!“

Ehemals Musik junger Abgehängter und Outlaws, ist Heavy Metal heute mehr und mehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Wohl mehr als 10 Millionen Deutsche hören Heavy Metal. Aber warum tun sie das? Was suchen und was finden sie in dieser Musik, die von Außenstehenden oft als purer Lärm empfunden wird? Warum wimmelt es im Heavy Metal nur so von Monstern und Teufeln – und wieso schweigen auch die Götter und die Engel nicht? Was erleben Metalfans, wenn sie ihre Musik hören – und welche Erfahrung treibt sie immer wieder ins Konzert? Wieso lesen sie ständig Musikzeitschriften und hören nicht auf, CDs zu kaufen? Wie ist es zu erklären, dass 40 Prozent der Metalfans behaupten, die Musik habe ihr Leben gerettet? Und warum ist Heavy Metal stärker als die Musikindustrie? Worum geht es im Heavy Metal wirklich?
Diese Fragen und mehr beantwortet Hartmut Rosa in seiner kleinen Soziologie des Heavy Metal.

Umschlagabbildung des Buches

Hartmut Rosa
When Monsters Roar and Angels Sing
Eine kleine Soziologie des Heavy Metal

2023. 187 Seiten mit 3 Abb. Kart.
€ 20,–
ISBN 978-3-17-042648-1
Metalbook, Band 1

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Hartmut Rosa
Hartmut Rosa (Foto: Jürgen Scheere)

Lieber Hartmut, schön, dass es mit dem Interview geklappt hat und dass Du Dir Zeit dafür genommen hast.

Zeit ist ein gutes Stichwort. Leider habe ich nie genug davon. Und wenn ich mal welche übrig hab, muss ich Musik hören oder Musik machen (lacht). Aber für das Buch und Eure coole „Metalbook“-Reihe nehme ich mir gerne ein paar Minuten!

Zunächst einmal einige persönliche Fragen. Während der recht kurzen Entstehungsphase des Buches „When Monsters Roar and Angels Sing“ hast Du aus Peru, Indien, Frankreich, Estland und anderen Ländern auf meine Anfragen geantwortet. Strengt Dich das Reisen gar nicht an?

Doch, natürlich, irgendwie schon. Immer wenn ich losreisen muss, verfluche ich mich dafür, dass ich nicht einfach „Nein“ gesagt habe, als die Anfrage kam. Aber die Wahrheit ist auch: Wenn ich erstmal da bin, ist es dort deutlich entspannter: Wenn ich an der Uni bin – in Jena, oder auch Erfurt –, habe ich fast immer einen Termin nach dem anderen. Wenn ich aber weit weg bin und meine Pflicht – meist einen Vortrag oder eine Masterclass oder sowas – erledigt habe, kann ich in aller Ruhe den Ort ansehen oder auf ein Konzert gehen. Habe ich letzte Woche zum Beispiel in Talinn gemacht: kleines Underground Metal-Festival in einem kleinen Schuppen, der Kino Maja hieß. Das war entspannt …!

Es ist ja aber nicht nur das Reisen … Wie schaffst Du es, permanent auf Achse und doch stets gut gelaunt und entspannt zu wirken? Zugleich erfolgreich Deine Forschung und Lehre voranzubringen und diverse Hobbies zu betreiben?

Naja, ich bin auch nicht immer gut gelaunt und stöhne über eine zu lange To-Do-Liste. Aber es ist schon so, dass ich mich unterwegs, insbesondere im Zug, ganz gut konzentrieren kann und dann manchmal einen richtigen Kreativschub habe. Und was die Hobbies angeht: In letzter Zeit blieben die schon ein wenig auf der Strecke. Aber generell sind mir eigentlich drei Dinge wichtig: Ohne Sport, ohne Musik, ohne Natur gibt es kein gutes Leben für mich. Und zur Natur zählen die Berge und das In-die-Sterne-Gucken. Ich habe eine kleine Sternwarte zu Hause im Schwarzwald.

Dabei hast Du in Deinem Buch „Beschleunigung“ doch die Gefahren einer unkontrollierten Beschleunigung eingehend beschrieben …

Ja, aber ich habe nie behauptet, das Problem gelöst zu haben. Die Hauptaussage jenes Buches lautet: Am Beschleunigungsdruck ist nicht ein falscher Lebenswandel schuld, sondern die gesellschaftlichen Strukturen, insbesondere die ökonomischen. Die können wir nicht individuell „entschleunigen“. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen, so hat es schon Adorno gesagt. Ich habe also niemals gesagt: „Macht einfach langsam, Leute.“ Sondern: „Wenn es mit dem Langsammachen nicht klappt, seid nicht Ihr, sondern ist die Gesellschaft schuld.“ Ich habe mir also die perfekte Ausrede geschrieben (lacht).

Das heißt, man muss sich der Beschleunigung aussetzen, um beruflich erfolgreich sein zu können?

Lass es mich so sagen: Der Steigerungszwang ist systemisch – man entkommt ihm nur um den Preis des Ausstiegs, und der ist hoch. Was man aber schon tun kann, ist, Strategien des Umgangs mit dem Beschleunigungsdruck zu finden. Das sind keine Lösungsstrategien, die den Zeitdruck beseitigen, sondern „Coping-Strategien“, die uns helfen, zu überleben und wenigstens ab und zu runterzufahren. Da gibt es in der Tat ein paar Dinge, die wir tun können. Zum Beispiel, uns ganz gezielt kleine „Entschleunigungsoasen“ in den Alltag einzubauen. Stunden oder auch mal einen Tag, an dem wir „Nichts!“ in den Kalender schreiben.

Es gibt schon eine Differenz zwischen
„Auch mal Metal hören und Metallica
kennen“ auf der einen Seite und „truer“
Metalhead sein auf der anderen Seite.

Und mit dieser Einstellung bist Du Soziologie-Professor geworden?

Naja, kann ja mal passieren (lacht). Aber weißt Du, was noch dabei geholfen hat? Heavy Metal und gute Rockmusik hören. Ich gehe eigentlich nie ins Bett ohne Musik, und ohne irgendwelche Interviews, Konzertberichte oder Rezensionen zu lesen. Und ich lese auch immer noch ein wenig in einem Roman oder einer Novelle oder so: Auf diese Weise entsteht eine magische Gegenwelt zum Alltag, die beim Distanzschaffen hilft. Aber natürlich gibt es so oder so keinen geradlinigen Weg zu einer Professur: Da kommen jede Menge Unverfügbarkeiten ins Spiel.

Und auch darüber hast Du ja ein erfolgreiches Buch geschrieben: „Unverfügbarkeit“ … Aber wie sieht das beim Metal aus: Steht der Zugang zu dieser Musik prinzipiell allen offen – ist verfügbar –, oder braucht es eine bestimmte Veranlagung? Wie kommt man zu dieser Musik, die von vielen schichtweg als Krach wahrgenommen wird?

Also ich glaube nicht, dass es dazu einer organischen oder neurologischen Veranlagung bedarf, aber einer biographischen bestimmt: Wir wissen eigentlich ziemlich gut, dass sich der Musikgeschmack insbesondere in den Teenagerjahren herausbildet und festigt. Ab Ende zwanzig sind die allermeisten Menschen, auch die Musikliebhaber, kaum mehr in der Lage, sich auf ganz andere Musikstile einzulassen. Und klar ist: Metal ist eine heftige physische Erfahrung, ich beschreibe es im Buch wie eine „heftige Umarmung“: Wenn wir den oder das, was uns da umarmt, lieben, ist es toll – wenn es uns fremd, suspekt oder unwillkommen ist, finden wir es schrecklich und wehren uns gegen die Zumutung. Aber für mich als Teenager war diese Musik definitiv wie eine Befreiung aus einem engen Käfig, wie eine Wiedergeburt. Es war meine pulsierende Nabelschnur zum Leben und ist es bis heute geblieben.

Metal ist eine heftige physische
Erfahrung, ich beschreibe es im Buch
wie eine „heftige Umarmung“.

Du hast in Deinem aktuellen Buch „When Monsters Roar and Angels Sing“ deine vieldiskutierte Resonanztheorie ganz konkret auf ein praktisches Beispiel übertragen: den Heavy Metal. Kannst Du das kurz erklären? Und was ist Dein Fazit: Hat sich Deine Theorie in der Praxis also bewährt?

Im Grunde ist Resonanz die Theorie zu dem, was ich gerade schon als „Umarmung“ beschrieben habe. Es geht um die Erfahrung, dass uns etwas von innen berührt, über das wir keine, jedenfalls keine komplette Kontrolle haben, das wir aber willkommen heißen und das uns dann verwandelt … und in uns ein Gefühl der Lebendigkeit entstehen lässt. Und natürlich ist Musik eine solche Resonanzquelle: Sie ergreift uns, sie bewegt uns und verwandelt uns, sie sorgt dafür, dass wir uns lebendig fühlen. Und doch können wir sie nie komplett verfügbar machen: Wenn wir schlecht gelaunt sind, passiert physiologisch und neurologisch genau das Gleiche, aber „in uns“ passiert nichts. So ist es auch bei manchen Konzerten: Vielleicht lässt uns gerade der Lieblingssong, auf den wir von Anfang an gewartet haben, kalt. Aber dieser andere Song oder ein Solo packt uns und wühlt uns auf … und es geschieht etwas geradezu Magisches: Es ist, als werde unser Innerstes berührt und verbinde sich mit der Musik wie mit einem Existenzgrund oder einem umgreifenden Äußeren. Aber solche unverfügbaren Resonanzen entstehen nicht nur beim Hören, sondern auch beim Komponieren: Das ist das Geheimnis der Bands. Zwischen den Musikern entsteht ein zerbrechliches, unkontrollierbares Resonanzsystem, das in manchen Momenten eben zu grandioser, magischer Musik führt.

Man liest ja immer wieder, der Heavy Metal sei endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Siehst Du das auch so?

In gewisser Weise scheint Metal jedenfalls seinen Höhepunkt in den 90er Jahren gehabt zu haben, mit Metallicas „Schwarzem Album“ und den „Use your Illusion“-Alben von Guns n’ Roses, wenn man diese Scheiben dazu zählen will. Danach kam die industriell gepushte Grunge-Welle, der sich die Metalfans – jedenfalls in Europa – allerdings erfolgreich widersetzt haben. Gegenwärtig ist insbesondere bei den Jungen eher der Hip-Hop in der Mitte der Gesellschaft. Die Zahlen zeigen jedoch auch: Heute hören in Deutschland und auch weltweit mehr Menschen Heavy Metal als jemals zuvor. Und das geht durch alle Altersstufen, auch wenn Metal insgesamt deutlich älter geworden ist. Allerdings: Es gibt schon eine Differenz zwischen „Auch mal Metal hören und Metallica kennen“ auf der einen Seite und „truer“ Metalhead sein auf der anderen Seite. Der Unterschied besteht nach meiner Auffassung darin, dass für wahre Metalfans ihre Musik nicht einfach eine nette Abwechslung oder ein cooles Entertainment ist. Für sie ist das eine ernste und wichtige, manchmal sogar „heilige“ Sache. Für sie stiftet Musik das, was ich „vertikale Resonanz“ nenne: eine Verbindung zum Urgrund der Existenz. Diese Art des Musikhörens ist nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Für mich als Teenager war diese Musik
definitiv wie eine Befreiung aus einem
engen Käfig, wie eine Wiedergeburt.
Es war meine pulsierende Nabelschnur zum
Leben und ist es bis heute geblieben.

Eine letzte Frage: Was kann die Gesellschaft als Ganze Deiner Meinung nach von der Kulturströmung Heavy Metal lernen?

Ich habe das Buch geschrieben, weil ich selber besser verstehen wollte, was da eigentlich vor sich geht – wieso dieser „Krach“ so unglaublich langlebig ist und so vielen Menschen so viel bedeutet. Und ich glaube, ich habe schon eine Antwort darauf gefunden: weil er in einer Gesellschaft, die immer berührungsloser, kälter und ratloser wird, eine emotionale und physische Umarmung stiftet, aber auch, weil er sich mit den existenziellen Fragen unseres Lebens befasst – mit Krankheit und Tod, Verzweiflung, Einsamkeit und Gewalt, aber auch mit Hoffnung, Erlösung, Liebe und Licht. Metal bedeutet, der Dunkelheit der Welt nicht auszuweichen, ihr geradewegs ins Gesicht zu sehen – face your fear. Statt sie in einer Heilsgewissheit oder einer Theorie abzufangen, tritt Metal ihr mit einem Gitarrensolo entgegen, das dieser Dunkelheit die Stirn zu bieten vermag. Heavy Metal ist für mich ein trotziges „Trotzdem!“. Er stiftet Leben. Es ist erstaunlich, wie viele Fans aus tiefer Überzeugung sagen: Diese Musik hat mein Leben gerettet. Und tatsächlich ist es so, dass Metal-Festivals trotz rauer Attitüde zu den friedfertigsten Veranstaltungen überhaupt gehören. So etwas braucht die Welt heute nötiger denn je und vielleicht kann die Metal-Szene in diesem Punkt der Gesellschaft als Vorbild dienen …

Vielen Dank und alles Gute!


Prof. Dr. Hartmut Rosa lehrt Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universität in Jena. Er ist leitender Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt.
Das Interview führte Dr. Peter Kritzinger aus dem Lektorat Geschichte/ Politik/ Gesellschaft.


Hartmut Rosa zu Gast in der BR KULTURWELT (ab 4:50 Min)
When Monsters Roar And Angels Sing
Begleitlektüre für Wacken: Der Soziologe und Keyboarder Hartmut Rosa hat ein Buch über die Soziologie des Heavy Metal geschrieben. Ein Gespräch über die Wurzeln der Musikrichtung, Rituale und lautstarke Umarmungen.

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