Herr Gries, früher konnte gerade die SPD auf eine starke Verankerung in den Kommunen und Ortsvereinen bauen. Sie setzen zuallererst auf eine „Öffnung nach innen und von unten“, fordern Mitglieder auf, mehr BeteiÂligungs- und MitbestimÂmungsÂrechte einzuklagen. Ãœber ParteiÂreformen wird meist auf Bundes- oder LandesÂebene diskutiert. Wo sehen Sie AnsatzÂpunkte an der Basis?
Parteireformen und Beschlüsse „von oben“ hat es in den letzten Jahren durchaus gegeben. Aber sie sind immer wieder ins Stocken geraten. Es mangelte meist auch an der Umsetzung unten. Die Auswahl von MandatsÂträgern wird häufig im Vorfeld von Wahlen in kleinen örtlichen und regionalen Zirkeln festgelegt. Netzwerke zur Verteilung von ListenÂplätzen bestehen über Jahre und JahrÂzehnte. Mehr Einfluss der Basis, insbesondere auf PersonalÂentscheiÂdungen, könnte wieder Bewegung in die SPD bringen. Wenn das Engagement in der Partei attraktiver wird, werden auch wieder mehr Menschen mitmachen.
Sie machen vor allem BerufsÂpolitiker und langÂjährige Funktionäre, insbesondere auf Kreis- und BezirksÂebene, für den StillÂstand verantwortlich. Sie kritisieren, dass bei DelegiertenÂwahlen GegenÂkandidaturen oft unerÂwünscht sind und im VorÂfeld verhindert werden. Wie kann die ParteiÂbasis dagegen angehen?
Das OrganisationsÂstatut der SPD im Bund bietet die MöglichÂkeit, im Rahmen von MitgliederÂversammlungen Kandidaten zum Beispiel für Landtage und den Bundestag zu wählen. Das Parteiengesetz sieht das eigentlich vor, das DelegiertenÂprinzip sollte eher die AusnÂahme sein, ist aber zur Regel geworden. Etliche SPD-Satzungen enthalten durchaus die MöglichÂkeit, VollÂversammlungen entscheiÂden zu lassen. Das sollte genutzt werden! Die WahlÂverfahren in der Stadt Bonn beispielsÂweise tragen den Willen der Mitglieder an der Basis in vorbildÂlicher Weise auf die höheren Organisationsebenen. ErfreulicherÂweise gibt es auch in anderen Städten und Kreisen in NRW ähnliche Initiativen in SPD-Gliederungen.
Seit dem Bundesparteitag der SPD 2019 können auch MitgliederÂbegehren und MitgliederÂentscheide leichter initiiert werden, MitgliederÂvoten sind möglich.
Wenn Initiativen von MitÂgliedern und Ortsvereinen erfolgÂlos bleiben, über Anträge zu den Kreisparteitagen eine Änderung der EntscheidungsÂverfahren mit dem Ziel zu erreichen, KandiÂdaten für den BundesÂtag oder die Landtage in MitgliederÂversammlungen in den Wahlkreisen zu wählen, bleibt der Weg über MitgliederÂbegehren und MitgliederÂentscheide. Es braucht sicher BeharrlichÂkeit und Mut, mehr Mitbestimmung durchzusetzen. Aber „Mehr Demokratie wagen!“ sollte der Partei von Willy Brandt eigentlich nicht schwerfallen …
Sie untersuchen beispielhaft die Verhältnisse in NRW, der ehemaligen HerzÂkammer der SozialÂdemokratie. Die WahlÂbeteiligung bei der LandtagsÂwahl in NRW 2022 ist auf 56% gesunken. Die SPD errang 26,7%. Im Sommer 2023 war die SPD in Umfragen auf 22% abgerutscht.
Es ist allerhöchste Zeit, gegenÂzusteuern. Daran sollten sich alle beteiÂligen, die der Partei verbunden sind oder waren. Es gibt in der SPD viele langÂjährige Mitglieder, die nicht austreten würden, die sich aber längst nicht mehr aktiv einbringen. Peter Brandt hat diese unzufriedenen SozialÂdemokraten „die größte SPD-ArbeitsÂgemeinschaft“ genannt. Ich hoffe auch auf eine starke Beteiligung der Jusos.
Eine Begegnung mit einem früheren SchulÂfreund, der auf Hartz IV angewiesen war, hat Sie erschüttert. Sie engagieren sich heute für die QuartiersÂsozialarbeit in einem WohnÂgebiet, in dem viele Menschen mit geringem Einkommen leben. Früher haben Sie Flüchtlinge betreut.
Ich habe Migranten wöchentlich BeratungsÂstunden angeboten, für sie Briefe übersetzt, AntragsÂformulare für IntegrationsÂkurse ausgefüllt, sie zur Anmeldung in die NachbarÂstadt gefahren. Mir wurde bewusst: Warum biete ich Bewohnern in meinem ehemaligen Stimmbezirk keine Hilfe an?
Herr Gries, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Karin Burger aus dem Lektorat Geschichte/Politik.
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Rainer Gries
„Und Du bist noch in der SPD?!“
Mehr Demokratie wagen! – Eine Streitschrift
2023. 121 Seiten. Kart.
€ 19,–
ISBN 978-3-17-042510-1