Was darf man sagen? – so lautet der Titel des ersten Bandes in der neuen Reihe „PerspekÂtiven auf GesellÂschaft und Politik“. Diese Reihe diskuÂtiert aktuÂelle Themen der GegenÂwart aus unterÂschiedÂlichen disÂzipliÂnären BlickÂwinkeln und bietet so dem Leser einen komÂpakÂten und inforÂmatiÂven ÃœberÂblick zu den zentraÂlen DiskusÂsionen aus Politik und GesellÂschaft. Zudem werden die Bände zu sehr günsÂtigen Preisen angeÂboten – ein Muss für jeden poliÂtisch und gesellÂschaftÂlich interesÂsierten Leser. HerausÂgeber des ersten Bandes ist Prof. Dr. Tanjev Schultz vom JournaÂlistiÂschen Seminar/ Institut für PubliÂzistik der Johannes Gutenberg- Universität Mainz, mit dem dieses Interview geführt wurde.
Tanjev Schultz (Hrsg.)
Was darf man sagen?
Meinungsfreiheit im Zeitalter des Populismus
2020. 176 Seiten. Kart. € 17,–
ISBN 978-3-17-038304-3
Aus der Reihe „Perspektiven auf Gesellschaft und Politik“
Herr Schultz, Was darf man (nicht) sagen und wer bestimmt, was man (nicht) sagen darf?
In Ländern wie der BundesÂrepublik, in denen die MeinungsÂfreiheit ein GrundÂrecht ist, darf man fast alles sagen. Fast alles bedeutet: nicht alles. VolksÂverhetÂzung ist ebenso verboÂten wie das BeleiÂdigen eines anderen Menschen. Wann aber muss die MeinungsÂfreiÂheit hinter PersönÂlichkeitsÂrechten zurückÂtreten? Das ist im EinzelÂnen kompliÂziert und GegenÂstand vieler jurisÂtiÂscher VerÂfahren. Denken Sie zum BeiÂspiel an das AufÂsehen, das im Jahr 2019 die EntscheiÂdung eines Berliner Gerichts ausÂlöste, als es um üble BeschimpÂfungen gegen die Grünen- Politikerin Renate Künast ging und die Richter diese zunächst nicht als BeleidiÂgungen werteten. Für die Frage, was man (nicht) sagen darf, spielt die RechtÂsprechung der Gerichte eine große Rolle. Jenseits des JurisÂtischen lässt sich die Frage, was man (nicht) sagen darf, aber auch noch anders diskuÂtieren – zum Beispiel als Frage der Moral, des Anstands oder des guten Geschmacks. Wenn man es so betrachÂtet, sind wir alle daran beteiÂligt zu entscheiÂden, was man sagen darf.
Das Buch trägt den UnterÂtitel „MeinungsÂfreiheit im ZeitÂalter des PopulisÂmus“: Was kennÂzeichnet dieses ZeitÂalter und in welcher HinÂsicht hat es die MeinungsÂfreiheit veränÂdert?
Durch den PopulisÂmus ist das DebattenÂklima feindÂseliger und polariÂsierÂter geworÂden. Populisten und ExtreÂmisten stellen sich gern als Opfer einer vermeintÂlichen „MeinungsÂdiktatur“ dar. Sie teilen selbst kräftig aus und missÂachten die Regeln einer respektÂvollen DiskusÂsion. Sobald sie aber dafür kritiÂsiert werden oder andere Akteure sich weigern, ihnen ein Forum zu bieten, beklagen sie eine EinÂschränÂkung ihrer MeinungsÂfreiheit. Das macht viele Debatten sehr mühsam. Je aufgeÂheizter das MeinungsÂklima ist und je lauter und schrilÂler die AuseinÂandersetÂzungen werden, desto größer ist die Gefahr, dass leise und besonÂnene StimÂmen nicht mehr durchÂdringen.
Das Besondere an dem Buch ist, dass es den Blick auf die MeinungsÂfreiheit aus unterschiedÂlichen PerspekÂtiven (jurisÂtisch, poliÂtisch, philoÂsophisch- sozialÂwissenÂschaftlich) bietet. Können Sie kurz skizzieren, wie sich die PosiÂtionen dieser einzelÂnen Bereiche zur MeinungsÂfreiheit unterÂscheiden?
Die jurisÂtische PerspekÂtive richÂtet sich auf das GrundÂrecht der MeinungsÂfreiÂheit, die gesetzlichen EinschränÂkungen und die entspreÂchende RechtÂsprechung. Juristisch diskutiert wird außerÂdem die Frage, ob und wie das InterÂnet so reguÂliert werden kann, dass einerÂseits die MeinungsÂfreiheit gesichert wird und andererÂseits GesetzesÂverstöße, beispielsÂweise beleidiÂgende und verleumÂderische HassÂrede, strafÂrechtÂlich erÂfasst und verÂfolgt werden können. Das muss auch poliÂtisch erörtert werden. SozialÂwissenÂschaftÂlich und philoÂsoÂphisch ergeÂben sich weiÂtere PerspekÂtiven: Welche sozialen Kosten haben bestimmÂte MeinungsÂäußerunÂgen? JurisÂtisch gesehen dürÂfen Sie vieles sagen, ohne befürchÂten müssen, dafür bestraft zu werden. Aber möglicherÂweise befürchÂten Sie, von anderen sozial geächÂtet zu werÂden. Hier zeigt sich ein enger ZusammenÂhang zwischen MeinungsÂfreiheit und Toleranz. Halten wir es aus, wenn jemand in unserem FreundesÂkreis andere poliÂtische AnsichÂten hat als wir? Aus philoÂsophiÂscher PerspekÂtive ist es spannend, nach den Regeln für ein gutes Gespräch und für konstrukÂtive DiskusÂsionen zu fragen. Aus ethischer Sicht kann betont werden: Man sollte nicht alles sagen, was man sagen dürfte.
Warum ist die Debatte um die Meinungsfreiheit heutzutage so virulent?
Da ist zum einen der erwähnte PopulisÂmus, der zu AuseinÂanderÂsetzunÂgen über die MeinungsÂfreiheit führt. Da sind zum anderen die HerausÂfordeÂrungen der DigiÂtaliÂsierung. Die KommuniÂkation überÂschreitet staatÂliche Grenzen, viele Gesetze bleiben aber im natioÂnalen Rahmen stecken. Das Internet hat die MögÂlichÂkeiten, die eigene MeiÂnung zu verbreiÂten, erhebÂlich erÂweiÂtert. In der frühen Phase des InterÂnets waren viele euphoÂrisch und sahen eine neue Ära der DemoÂkratie heraufÂziehen. In den verganÂgenen JahÂren zeigÂten sich immer mehr die SchattenÂseiten: HassÂrede, Fake News und PropaÂganda. Auch die klassiÂsche Zensur, die staatÂliche EinÂschränÂkung der Meinungs- und PresseÂfreiheit, ist keinesÂwegs überÂwunden. In vielen DiktaÂturen und autoÂritäÂren StaaÂten besteht sie fort und verbinÂdet sich mit neuer ÃœberÂwachungsÂtechnoÂlogie. Der Kampf für MeinungsÂfreiheit ist so aktuell und dringÂlich wie eh und je.
HerzÂliÂchen Dank für Ihre Zeit und Mühe.
Das Interview führte Charlotte Kempf aus dem LekÂtorat des Bereichs Geschichte/ Politik/ GesellÂschaft.