In seinem neuen Buch zum Thema „Reflexionen zur Zeitgeschichte“ sinniert Rolf-Ulrich Kunze tiefgründig und kurzweilig über fundamentale Themen der Zeitgeschichte, die jedoch im Alltag vielfach zu kurz kommen. Kunze gelingt es dabei immer wieder den Bogen zur tagesaktuellen Politik zu schlagen, etwa wenn er der Frage nachgeht, wann eine Demokratie scheitert. Einen Überblick dazu gibt er im diesem Interview.
Rolf-Ulrich Kunze
Reflexionen zur Zeitgeschichte
Essays zu Subjekt und Methodik
2020. 175 Seiten, 14 Abb. Kart. € 24,–
ISBN 978-3-17-038332-6
Aus der Reihe „Geschichte in Wissenschaft und Forschung“
Herr Kunze, in Ihrem neuesten Buch geht es um „Reflexionen zur Zeitgeschichte“. Wie ist das Buch entstanden? Was verbindet die einzelnen Essays und was ist das Ziel des Buches?
Das Reflektieren grundsätzlicher Probleme kommt im Wissenschaftsalltag zu kurz, die Zeit reicht dafür einfach nicht. Die Taktung einer letztlich nach betriebswirtschaftlichen Kriterien organisierten Universität im industriellen Fließprozess lässt diejenigen, die sich diese Zeit nehmen, sogar schnell als Exzentriker mit fragwürdigen Relevanzkriterien erscheinen. Denn für Reflexionen gibt es weder Kennziffern noch Zielvereinbarungen. Der bei mir über die Jahre immer weiter zunehmende Unmut über das, was Kafka so treffend Holzmehlfresserei im akademischen Geschäft genannt hat, ist ein wesentliches Motiv für das Wagnis dieses Essaybands. Auslöser waren die gelegentlich bei mir landenden Medienanfragen, in denen dem Neuzeithistoriker bestenfalls zwanzig Sekunden gegeben werden, um auf eine Suggestivfrage zu antworten. Zum Beispiel auf diejenige, ob er nicht auch meine, dass unsere Demokratie in Gefahr sei. Die Texte des Bandes sind Langfassungen der hier möglichen Antworten, die das Interesse am Nachdenken über die Bedeutung des geschichtsbetrachtenden Subjekts verbindet. Es gibt keine subjektlose Geschichtsdeutung. Eines meiner Ziele ist es, diese scheinbar selbstverständliche Tatsache zu durchdenken. Hegel hat das auch getan, also befinde ich mich in bester Gesellschaft, auch wenn meine Sätze nicht so lang sind.
Einer Ihrer Essays stellt die Frage nach dem Scheitern der Demokratie. Bekommt diese Frage durch die Pandemie-Krise eine neue Dimension – Stichwort Verschwörungstheorien und Querfront?
Der Demokratie-Essay entstand vor der Pandemie und unter dem Eindruck des nahezu überall im globalen Westen vordringenden Rechtspopulismus mit seiner Scharnierfunktion zum Rechtsradikalismus. Tatsächlich werfen die Coronakrise und vor allem die Reaktionen auf die staatlichen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung ein neues Licht auf die Frage nach der Wahrnehmung der Demokratie. Über seuchenpolitisch begründete Grundrechtseinschränkungen muss man nicht jubeln, aber die Coronamaßnahmenproteste haben nicht nur legitime zivilgesellschaftliche Sorgen artikuliert, sondern Verschwörungstheoretikern aller Couleur eine Bühne geliefert, auf der nicht nur sie, sondern auch sehr schnell Rechtsradikale auftraten. Von einer Querfront scheint mir das schon deshalb weit entfernt, weil alle demokratisch legitimierten Institutionen, die Gewaltenteilung und die Pressefreiheit in der Bundesrepublik funktionieren. Allerdings zeigt der Lackmustest für Demokratiegefährdung, der Antisemitismus, dass bei den Coronaprotesten ein Potential besteht, das die Extreme im gemeinsamen Hass punktuell verbinden kann. Ein menschenverachtendes Plakat mit der handgemalten Aufschrift „Gib Gates keine Chance!“ erinnert auf fatale Weise an den antisemitisch hetzerischen Grundtenor Weimars: „Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ Damals folgten den Worten Taten.
Erleben wir die Wiederkehr der Demokratiekrise der 1920er bis 1940er Jahre in anderer Form?
Nein. Die historisch-politischen Rahmenbedingungen und die Probleme sind andere. Wir erleben keinen hochideologischen Weltbürgerkrieg, in dem sich eine totalitäre und eine demokratische Version der Moderne gegenüberstehen. Unsere Gemengelage ist viel komplizierter. Der entscheidende Unterschied liegt in der Stabilität der demokratischen Verfassungsstaaten damals und heute. Am Ende der 1930er Jahre gab es sehr viel weniger von ihnen als 1919. Demokratieverlust ist in Putins Russland und Erdogans Türkei nicht auszuschließen, aber nicht in Trumps USA oder Johnsons Vereinigtem Königreich. Populismus gehört ebenso zur Demokratie wie Oligarchismus. Der Realpolitiker Churchill hat das gut beschrieben: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“
Wie gefährlich und wie neu ist der im gesamten Globalen Westen auftretende Rechtspopulismus in seiner Scharnierfunktion zum Rechtsextremismus?
Ich folge hier dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer und seinem Interpretationsansatz der „autoritären Versuchungen“. Heitmeyer beobachtet in der Bundesrepublik seit langem eine steigende gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, deren Politisierungsgrad ebenfalls wächst. Der Rechtspopulismus hat aus diesem Trend einen Faktor in der politischen Landschaft gemacht. Demokratiegeschichtlich scheint mir allerdings nicht so sehr das problematisch, sondern im europäischen Vergleich die in der deutschen politischen Szenerie ausgeprägte und weiter zunehmende Verflechtung von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus einerseits und die ausgeprägte, erst jetzt allmählich thematisierte Rechtsblindheit und Linksscharfsichtigkeit der Verfassungsschutzorgane von Bund und Ländern.
Verblasst der antitotalitäre Konsens, der doch seit 1945 das Demokratieverständnis und die EU maßgeblich trägt?
Auf jeden Fall, und das ist eine Frage des Zugs der Generationen durch die Zeit. Zeitgeschichte ist nach der Definition von Hans Rothfels die Geschichte der lebenden Generation. Die Zeitzeugen von Demokratiegründung und europäischer Zusammenarbeit im Zeichen des verbindlichen „Nie wieder!“ nach 1945 werden immer weniger. Die historisch-politische Bildung kann die Unmittelbarkeit ihres Impulses nicht ersetzen. Für den Historiker könnte hier die bittere Einsicht liegen, dass wirkliches Lernen aus der Geschichte, von allen dekonstruktivistischen Bedenklichkeiten einmal abgesehen, nur innerhalb ein- und derselben Biographie möglich ist, in der ein Vorher und ein Nachher vorkommt. Das heißt aber auch, dass jede Generation für sich Demokratie und Europa entdecken und in ihrem eigenen Leben verwirklichen muss.
Zu einem anderen Thema: Was bedeutet es, wenn uns Technik körperlich so nah ist wie das Smartphone, wir es aber gar nicht mehr als Technik wahrnehmen, weil unsere Wahrnehmung sich an seine Medialität anpasst?
Das herauszufinden, erscheint mir eine der großen Aufgaben der Kulturgeschichte der Technik zu sein. Es gibt diesen alten Anthropologenwitz: Wenn du nicht erklären kannst, was ein ausgegrabenes Objekt in der Nähe von Gebeinen ist, war es meistens kultisch. Das könnten zukünftige Anthropologen über unsere Smartphones auch einmal sagen und in ihnen ein besonders intensiv genutztes spirituelles Gerät sehen, das der digitale Mensch immer eng am Körper trug. Handys haben unsere Weltwahrnehmung stark verändert. Wir orientieren uns anders. Wir nehmen anders wahr. Wir kommunizieren anders. Nur als Beispiel: In keiner Phase der universellen Kulturgeschichte standen dem Menschen ständig so viele Bilder zur Verfügung. Es gibt praktisch keinen Gegenstand aus unserer eigenen materiellen Biographie mehr, den wir uns nicht auf dem Smartphone mühelos vor Augen führen könnten. Der Lieblingsteddy ist ebenso wie das wichtigste Matchbox-Auto ein industrielles Standardprodukt, das auf Ebay ein Preisschild hat. Welche Folgen das für unsere Mentalität des Umgangs mit Dingen hat, ist eine so lohnende wie offene Frage.
Wie verbindet denn das Subjekt die Technikfaszination und die von Ihnen auch behandelte Familiengeschichte?
Durch das Biographische, die Erfahrung im eigenen Lebenslauf. Wir alle haben und sind Familienbande. Wir alle haben Erfahrungen mit dem sozialen Leben der Dinge in unserer Biographie. Jede Familie hat ihre besonders heiligen Dinge. Das kann das Familienauto sein, die Datsche, ein bestimmtes Möbelstück. Entscheidend sind die Erzählungen, die sich damit verbinden und die innerhalb der Familie weitergegeben werden. Ein nach wie vor wichtiges Medium dafür ist die Familienfotografie. Sie hält meist Personen im Vordergrund und Dinge im Hintergrund fest, wodurch der lebensweltliche Zusammenhang besonders authentisch dokumentiert wird. Deshalb geht es in dem familiengeschichtlichen Essays auch um den Umgang mit Familienfotos als Quelle.
Vielen Dank für Ihre Zeit und Mühen.
Das Interview führte Dr. Peter Kritzinger aus dem LekÂtorat des Bereichs Geschichte/ Politik/ GesellÂschaft.
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