Im Jahr 2023 jährt sich die Kreisgebietsreform in Baden-Württemberg zum fünfzigsten Mal. In der kurzen Zeitspanne zwischen 1969 und 1973 schufen Landesregierung und Landtag den heutigen Gebietszuschnitt der Landkreise. Dabei wurde die Anzahl der Kreise auf 35 reduziert und damit etwa halbiert. Entsprechend verloren zahlreiche ehemalige Kreisstädte den Status als Kreissitz, manche fühlten sich gegenüber alten Konkurrenten zurückgesetzt. Bei den emotionalen Diskussionen prallten technokratische Planung und identitätsorientierte Tradition aufeinander. Heute gilt die Kreisreform als wichtiger Meilenstein der Landespolitik in Baden-Württemberg. Auch die Kreise selbst sind jüngst durch Aufgaben wie das Management der Corona-Pandemie oder die Unterbringung und Integration von Geflüchteten für alle sichtbar in Erscheinung getreten.
Zu dem runden Jubiläum liegt nun ein reich bebilderter Band vor. In fünf Dachbeiträgen werden die Ereignisse der Reform und die Folgen bis in die Gegenwart zusammengefasst. Ergänzt werden die Dachbeiträge durch kurze, bunte Mosaikbeiträge, in denen Anekdoten und einzelne Aspekte kurzweilig zur Sprache kommen. Zudem wird jeder Landkreis in einem Artikel geografisch, historisch und erinnerungspolitisch eingeordnet. Interviews mit einigen zentralen Akteuren und Beobachtern sowie ein feuilletonistischer Beitrag zur aktuellen Rolle der Landkreise runden den Band ab.
Prof. Dr. Wolfgang Sannwald ist einer der Herausgeber und Hauptautoren des Buches sowie Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Kreisarchive beim Landkreistag Baden-Württemberg, deren Mitglieder das Buch erstellt haben. Im Interview mit ihm wollten wir zunächst wissen, warum sich ein Blick auf dieses Ereignis vor 50 Jahren lohnt.
Sannwald/Joos/Waßner (Hrsg.)
Identität – Funktion – Innovation
50 Jahre Kreisreform Baden-Württemberg
Ca. 450 Seiten, 248 Abb., gebunden. Ca. € 25,–
ISBN 978-3-17-043156-0
Vor rund 50 Jahren, zum 1. Januar 1973, gab es eine grundlegende Kreisreform in Baden-Württemberg. Manche könnten fragen: Na und?
Nehmen Sie das Buch zur Hand, blättern Sie darin … Schon auf den ersten Blick werden Sie an vielen Fotos oder Überschriften hängen bleiben. Und wenn Sie dann erst die vielen Anekdoten, Geschichten und Analysen lesen, erschließt sich Ihnen mosaikartig ein für die damalige Zeit hochemotionales Ereignis.
Es geht doch nur um Verwaltungsgrenzen, wie kann das emotional sein?
So wie Sie dachten damals das Innenministerium und dessen Planungsabteilungen. Als deren Pläne Ende der 1960er Jahre im Land herumgingen, standen jedoch gutbürgerliche Kommunalpolitiker auf, ähnlich wie andernorts Mitglieder der Antiatomkraftbewegung. Die trugen Banner und Spruchtafeln vor den Regierungssitz in Stuttgart oder in die Städte und demonstrierten lautstark für ihre Kommunen oder Landkreise. Mir wurde in Interviews etwa berichtet, dass in Säckingen diejenigen, die eine Vergrößerung des Landkreises Waldshut auf Kosten der Trompeterstadt betrieben, dort von manchen Einzelhändlern nicht mehr bedient wurden. Und das will was heißen, dass man sich ein Geschäft entgehen ließ. Der frühere Landkreis Nürtingen zog sogar bis vor den Staatsgerichtshof.
Aber warum war der Kreiszuschnitt ein so emotionales Thema?
Was die Planungseuphoriker übersahen, war die Rolle, die Räume generell und auch Verwaltungsräume für die Identifikation von Menschen spielen. Um selbst Identität zu gewinnen, verorten wir Menschen uns örtlich, aber auch regional. Je länger ein Verwaltungsraum besteht, desto mehr gestalten Menschen ihren Alltag in ihm und mit ihm. Die Alltagskultur kann so auch Landkreise zu einem Teil von Heimat machen. Und sei es nur über eine vermeintliche Äußerlichkeit wie ein Kfz-Kennzeichen.
Und damit hatten die Planer im Innenministerium so nicht gerechnet?
Nein, die hatten ihre Karten und Grafiken mit Zentralen Orten und Verflechtungsbereichen. Die zeichneten sie nach „sozioökonomischen“ Verflechtungen, nicht nach den Empfindungen der Menschen. Und die Abgeordneten im Landtag trauten sich in einer von Planungseuphorie geprägten Zeit oft schon gar nicht mehr, das Wort „Heimat“ überhaupt in den Mund zu nehmen.
Also war die Kreisreform im Grunde eine nüchterne Planungsleistung?
Das nun auch nicht. Im Hintergrund wirkte oft politisches Kalkül, so beispielsweise im Hochschwarzwald. Dieser Landkreis wurde damals aufgelöst und der damals regierende Ministerpräsident Hans Filbinger wollte wohl einige Gemeinden von dort, die traditionell eher konservativ wählten, für seinen Wahlkreis Freiburg gewinnen. In dem Buch nennen wir mehrere Beispiele dafür, wie dann aber doch politisches Kalkül die angebliche Planungsobjektivität über den Haufen warf.
Da höre ich Skepsis gegenüber den Motiven der Kreisreform heraus …
Nein, das Anliegen, größere, leistungsfähigere Landkreise zu schaffen, teilten viele – und das war auch durchaus ein sinnvolles Anliegen. Denn die Landkreise sollten beim industriellen und sozialen Ausbau Deutschlands mehr Aufgaben übernehmen. Aber die Reform war zunächst nur ein Teilerfolg: Der Politik ging nach der Gebietsreform die Kraft aus. Sie schaffte es nicht mehr, an die Gebietsreform die angekündigte Funktionalreform dranzuhängen. Wir sprechen in dem Buch von der „langen Kreisreform“, weil erst Ministerpräsident Erwin Teufel dann 2005 als zweites Kernstück der Reform viele bis dahin selbstständige Sonderbehörden des Landes auflöste und in die Landratsämter eingliederte – das war eigentlich der Plan, der bereits 1973 folgen sollte.
Und heute? Wie ist Ihre Bilanz der Kreisreform?
Ich meine, dass die Fluchtbewegungen seit 2015 und die Corona-Pandemie seit 2020 schlaglichtartig gezeigt haben, wie sehr wir uns auf die durch die lange Kreisreform gestärkten Landkreise verlassen können. Sie bündeln heute finanzielle Handlungsfähigkeit, Personalressourcen und die meisten staatlichen und viele übergreifende kommunale Aufgaben auf unterer Ebene. Das machte es möglich, dass sie rasch Notunterkünfte schaffen, mehr Personal für die Betreuung Geflüchteter einsetzen oder Impfzentren aus dem Boden stampfen konnten. Und die Landkreise haben viel dafür getan, für die Menschen auch wieder als Identifikationsraum wahrnehmbar zu sein.
Das Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Sannwald führten Dr. Julius Alves und Dr. Peter Kritzinger aus dem Lektorat Geschichte/ Politik/ Gesellschaft.
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