Die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 wurde zum Fanal für eine arabienweite Protestbewegung. Schon bald war voller Optimismus von einem „Arabischen Frühling“ die Rede. Heute, ein Jahrzehnt später, fällt das Fazit ernüchternd aus: Was als Kampf um Freiheits- und Bürgerrechte begann, rief vielerorts bald illiberale Kräfte auf den Plan. Vielfach konnten sich autoritäre und halbautoritäre Regime halten oder an die Macht zurückkehren. Martin Pabst analysiert die Ursachen dieser einmaligen Umbruchsdynamik und gibt Antwort auf die Frage, warum die so vielversprechende Bewegung nicht nachhaltig Fuß fassen konnte.
Lesen Sie erste Eindrücke in unserem Interview mit dem Autor.
Martin Pabst
Arabischer Frühling ohne Sommer?
Die schwierige Neuordnung einer Großregion
2021. 320 Seiten, 21 Abb. Kart. € 32,–
ISBN 978-3-17-035741-9
Herr Dr. Pabst, auch nach dem Ende des Kalten Krieges sind im arabischen Raum viele autoritäre und repressive Regime an der Macht geblieben. Würden Sie kurz eine grobe Skizze für die Gründe dieses sogenannten „Arabischen Sonderwegs“ entwerfen?
Revolutionär legitimierte Ein-Personen- und Clanherrschaften wie in Libyen und Syrien, Einparteiensysteme wie in Tunesien, autoritär gelenkte „Halbdemokratien“ wie in Ägypten, konstitutionelle Monarchien mit starken Machtbefugnissen des Königs wie in Jordanien und Marokko sowie absolute Monarchien in den arabischen Golfstaaten waren seit Jahrzehnten oder noch länger etabliert.
Die Menschen wurden in diesen Strukturen sozialisiert und die Angstschwelle war hoch. Auch funktionierte zunächst noch der „autoritäre Gesellschaftsvertrag“, d. h. der Staat erwartete von seinen Untertanen, dass sie sich nicht in die Politik einmischten. Dafür sorgte er für billige Grundnahrungsmittel, kostenfreie oder kostengünstige Bildung und Gesundheitsversorgung sowie viele privilegierte Stellen in Behörden und Sicherheitskräften. Schließlich machten die europäischen und nordamerikanischen Partner keine ernsthaften Versuche, Reformen zu unterstützen und sich der kritischen Zivilgesellschaft zuzuwenden. Man schätzte die bekannten arabischen Politiker, machte mit ihnen gute Geschäfte und gab sich zunächst mit wirtschaftlichen Reformen zufrieden – politische Reformen wurden nicht vordringlich angesprochen und nach dem 11. September 2001 dem Anti-Terror-Kampf untergeordnet.
Was hatte sich Ihrer Einschätzung nach verändert, sodass es 2010/11 zu den Protesten kam? Inwiefern war die Zeit dafür nun reif geworden?
Es war kein historischer Zufall. Verschiedene mittel- und langfristige Trends zeigten 2010/11 erstmals ihre kombinierte Wirkung:
Natürlich brauchte es auch einen Auslöser: die Selbstverbrennung des von Polizei und Behörden schikanierten jungen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in einer vernachlässigten tunesischen Provinzstadt. Sein exemplarisches Schicksal wurde zum Fanal für eine breite Volksbewegung ungeahnter Dimension von Marokko und Mauretanien bis in den Jemen und Oman.
Sie haben sich zur Zeit des „Arabischen Frühlings“ zunächst in Algier aufgehalten und später Kairo besucht. Wie haben Sie persönlich die Proteste erlebt?
Einen wichtigen Anstoß gaben in Algerien die rasch steigenden Preise für Brot und andere Grundnahrungsmittel. Auch Bouazizis Schicksal spielte eine Rolle, es wurden Dutzende versuchte oder erfolgreiche Selbstverbrennungen im ganzen Land registriert. Die vor allem von Jugendlichen getragenen Proteste waren teilweise wütend, schlugen vielerorts in Unruhen um. Doch gab es zu wenige Kontakte zu Oppositionsparteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gewerkschaften, die ebenfalls begannen, auf die Straße zu gehen.
Der Staat reagierte mit einer Doppelstrategie aus Zuckerbrot und Peitsche. So wurde der jahrzehntelange Ausnahmezustand zumindest offiziell aufgehoben, die Preiserhöhungen wurden durch Subventionen gedämpft und Milliarden US-Dollar wurden in den kommenden Jahren in den Bau von Straßen, Wohnungen, Krankenhäusern, öffentlichen Verkehrsmitteln usw. gesteckt. Denn im Grunde ist Algerien ein reiches, Öl und Gas exportierendes Land. Demonstrationen wurden erlaubt, aber nicht mehr in der Hauptstadt Algier, und von einem massiven Aufgebot an Sicherheitskräften begleitet. Es gelang, die Kundgebungen und Proteste an den jeweiligen Orten zu isolieren und allmählich auslaufen zu lassen. Politische Reformen und der überfällige Generationenwechsel wurden versprochen, dann aber nicht eingehalten.
Erst 2019 erlebte Algerien nun wirkliche landesweite und massenhafte Proteste, die zum Rücktritt des greisen Staatspräsidenten Abd al-Asis Bouteflika führten. Doch auch in Algerien befindet sich die Transformation heute bestenfalls auf halbem Weg.
In Ägypten war der Sturz Mubaraks bereits vollzogen, es war die spannende Reformphase angebrochen. Jeder feierte lautstark bzw. vorschnell den „Sieg der Revolution“. Doch hatte bereits der knallharte Machtkampf zwischen Militär, parlamentarischen Islamisten und säkularen Reformkräften eingesetzt. Friedliche Kundgebungen wurden zunehmend von Konfrontation überlagert, und zu spüren war, dass die künftige Machtverteilung durch ein gehöriges Maß an Gewalt entschieden werden würde. Die Entwicklung mündete in den Staatsstreich des Militärs vom 3. Juli 2013, den ironischerweise ein Teil der Protestbewegung von 2011 enthusiastisch begrüßte, ein anderer vehement ablehnte.
Worin sehen Sie zentrale Gründe dafür, dass man heute sagen muss, die anfänglich so vielversprechende Protestbewegung ist zumindest vorläufig weitgehend gescheitert?
Erstens war die Reformbewegung heterogen, im Transformationsprozess zeigten sich ihre geringe politische Erfahrung, ihre unzureichenden Ressourcen, ihre personelle und organisatorische Zersplitterung. Zweitens kam von außen auch nur begrenzte Unterstützung. Man hatte den Eindruck, dass z. B. die USA und die Staaten der EU nicht wirklich vom Erfolg der Reformbewegung überzeugt waren oder andere Partner bevorzugten. Dritten waren die alten Eliten – Militärs, hohe Beamte, privilegierte Unternehmer etc. – hervorragend organisiert und verstanden das Spiel um die Macht. Beispielsweise in Ägypten manövrierten sie Muslimbrüder und Säkulare virtuos gegeneinander aus, bis sie selbst wieder die Macht ergriffen. Viertens war der „Arabische Frühling“ nicht nur eine innere Angelegenheit, er eröffnete das „Große Spiel“ der Global- und Regionalmächte um die Neuordnung Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens – USA versus Russland, Saudi-Arabien versus Iran versus Türkei versus Israel. Da wurden die Reformkräfte schon bald zu Statisten oder gar Opfern degradiert.
Am Ende des Buches wagen Sie einen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung. Welche Erwartungen haben Sie bzw. was halten Sie für entscheidende Einflussfaktoren für den weiteren Entwicklungsweg?
Die politische und ökonomische Lage hat sich für die meisten Menschen nicht grundlegend verändert. Vielerorts sind sie sogar schlechter geworden. (Semi-)Autoritäre Regierungen blieben im Amt oder kehrten zurück, grundlegende Reformen wurden nicht durchgeführt, viele qualifizierte junge Einwohner haben ihren Ländern den Rücken gekehrt, angesichts der politischen Unsicherheit wurde zu wenig investiert oder gar Kapital abgezogen, und das Wirtschaftswachstum ist in der Regel zu gering, um angesichts des anhaltend hohen Bevölkerungswachstums spürbare Verbesserungen zu erzielen. Noch düsterer ist die Lage in kriegszerstörten Ländern wie Jemen, Libyen oder Syrien. Tendenziell sind daher neue Wellen des Protests zu erwarten, wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass sich die Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern graduell unterscheiden.
Da die 2011 wichtige Mittelschicht geschwächt oder gar zerstört ist, werden die Akteure vor allem aus den Unterschichten kommen. Die Proteste dürften gewalttätiger ausfallen, allerdings auch noch weniger koordiniert. Verbindende Ideologien fehlen derzeit: Sowohl das gemäßigt-islamistische wie auch das westlich-demokratische Modell haben enttäuscht und nicht reüssiert, genauso wie 40 Jahre zuvor das nationalistische und sozialistische Modell. Es fehlen überzeugende politische Gegenentwürfe, die Grenzen überwinden und weite Bevölkerungskreise mobilisieren und begeistern können.
Natürlich werden militante Islamisten und Dschihadisten diese Lücke zu nutzen suchen, doch hat auch ihre Attraktivität glücklicherweise abgenommen. Mehrheitsfähig war ihre Ideologie bisher nicht und die Brutalität und Radikalität ihres Vorgehens überdeckte nicht selten die vergleichsweise geringe Unterstützung.
Offen sind die weiteren Einflussfaktoren: Welche Groß- und Regionalmächte werden den anhaltenden Machtkampf um die Neuordnung der Großregion gewinnen und welche Folgen wird dies auf die inneren Entwicklungen in den Staaten haben? Wird es gar zu zwischenstaatliche Kriegen z. B. mit dem Iran kommen? Wie werden sich globale Trends, wie der machtpolitische und wirtschaftliche Aufstieg Chinas und anderer Schwellenländer, Bevölkerungswachstum und Mobilität, Klimawandel und Umweltveränderungen, die Corona-Pandemie sowie die Energiewende, auswirken?
Auch im Jahrzehnt 2021 bis 2030 wird sich der von vielen Einflussfaktoren bestimmte Umbruchprozess in Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten fortsetzen. Wir Europäer sind zugleich Beobachter, Betroffene und Beweger.
Das Interview mit dem Autor Dr. Martin Pabst führte Dr. Julius Alves aus dem LekÂtorat des Bereichs Geschichte/ Politik/ GesellÂschaft.
Sehen Sie auch das Interview des Austrian Institute For European and Security Policy (AIES) mit Herrn Dr. Martin Pabst.
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