Vor 40 Jahren beschäftigte ein Skandal nicht nur die Bundesrepublik, sondern fand weltweite Beachtung: Das Magazin Stern hatte Auszüge aus angeblichen Tagebüchern Adolf Hitlers veröffentlicht. Man trat mit dem Deutungsanspruch an die Öffentlichkeit, dass von nun an die NS-Geschichte „in großen Teilen neu geschrieben werden“ müsse. Als sich die Tagebücher als Fälschungen entpuppten, gab es zwar einen Sturm an Entrüstung. Doch bis heute gilt der Fälscher Kujau als harmloses, sympathisches Schlitzohr und der Stern als Opfer.
Hier setzt Sebastian Barths Untersuchung an: Die Tagebücher zeichnen ein verharmlosendes Bild Hitlers; eine veritable Geschichtsfälschung, die schon damals offensichtlich war oder hätte sein sollen. Der Skandal in seinem geschichtskulturellen und historiographischen Kontext wie auch seine Rezeption werden ausführlich analysiert.
Lesen Sie erste Eindrücke in unserem Interview mit dem Autor.
Sebastian Barth
Umgeschriebene Geschichte?
Die Hitler-Tagebücher und ihr Echo
2023. 525 Seiten, 26 Abb. Kartoniert. € 79,–
ISBN 978-3-17-043760-9
Reihe: Forum historische Forschung: Moderne Welt
Herr Dr. Barth, Sie haben sich in Ihrer DisserÂtation mit den „Hitler-Tagebüchern“ beschäfÂtigt, deren VeröfÂfentÂlichung sich zum vierzigsÂten Mal jährt. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?
Die folgende Antwort wäre wohl ein wenig zu romanÂtisch: Der seltsame Titel Schtonk! begegnete mir als Kind in den neunÂziger Jahren, und zwar in Form einer VHS-Kassette, die im Regal meiner Eltern stand. Schtonk! ist ein SpielÂfilm, den Helmut Dietl 1992 erfolgÂreich in die Kinos brachte und den Skandal um die Hitler-TageÂbücher themaÂtiÂsiert; das KunstÂwort „Schtonk“ ist Charlie Chaplins Der große Diktator entnommen. Mit vielÂleicht zwanzig habe ich den Film dann auch erstÂmals gesehen und fand die ThemaÂtik spannend. Wie gesagt: Diese HerleiÂtung ist ein wenig zu blumig; in WirkÂlichÂkeit war es wie bei vielen DoktoÂranden: Ich bin dem Thema mit wissenÂschaftÂlicher FrageÂstellung erstmals an der UniÂversiÂtät begegnet, und zwar im Rahmen einer LehrÂveranÂstalÂtung zum Thema Skandale – mein ReferatsÂthema war eben der Skandal um die Hitler-Tagebücher.
Diese Tagebücher haben sich sehr bald als FälÂschung herausÂgestellt. Weshalb sind sie also für einen Historiker von Interesse?
Aus gleich mehreren Gründen. Erstens: Der Stern hatte anno 1983 sowohl eine beträchtÂliche Auflage, höher z. B. als Der Spiegel, wie auch eine enorm hohe ReichÂweite; er war eines der ganz einÂflussÂreichen Medien zur damaligen Zeit. Allein schon, dass die TageÂbücher von einem solch publiÂzistiÂschen SchwerÂgewicht veröfÂfentÂlicht wurden, beÂgrünÂdet das InteÂresse an ihnen: Wie konnten die TageÂbücher dort für echt gehalten werden, wie konnten sie auf diese sehr speziÂfische Art verÂmarkÂtet werden? Zweitens schließt sich daran direkt die Frage an, wie die ÖfÂfentÂlichÂkeit auf die AnÂkündiÂgunÂgen des Stern reaÂgierte, nicht nur die TageÂbücher veröfÂfentÂlichen zu wollen, sondern dies auch mit der BeÂhaupÂtung verband, dass aufÂgrund von deren Fund die „Geschichte des Dritten Reiches in großen Teilen“ werde „neu geschrieben“ müssen. Drittens schließÂlich prägten die achtziger und neunÂziger Jahre ganz wesentÂlich den öffentÂlichen UmÂgang mit dem NatioÂnalÂsoziaÂlismus, wie er seitÂher üblich geworÂden war und mit dem Begriff „ErinÂnerungsÂkultur“ bezeichnet wird. Dass sich diese als eine äußerst selbstÂkritiÂsche herausÂbilden würde, war um 1983 noch keinesÂwegs unÂangeÂfochÂten, davor erst recht nicht. Die achtziÂger Jahre kennÂzeichÂnen zahlÂreiche KonÂtroÂversen rund um das Thema NatioÂnalÂsoziaÂlisÂmus, häufig in VerÂbinÂdung mit dem BundesÂkanzler Kohl, an dem sich vor allem IntelÂlektuelle links der Mitte rieben.
Die Einsicht, dass es sich um eine FälÂschung handelt, schlug beim Stern wie ein Blitz ein. Wie ist man mit dem Skandal damals umgegangen?
Die RedakÂteure, die in großer Zahl ja überÂhaupt nicht in das PubliÂkationsÂprojekt eingeÂbunden waren, wollten unbedingt AufÂkläÂrung. Ihnen ging es zwar – wie allen anderen auch – um die Frage, wer die Bücher gefälscht hatte, aber sie inteÂresÂsierÂten sich natürÂlich vor allem dafür, wie die Bücher angeÂkauft wurden, wie sie ins Heft kamen und welche PersoÂnen einÂgeÂweiht waren. Der Verlag seinerÂseits nahm sehr schnell AbÂstand vom JourÂnalisÂten Gerd Heidemann, der für die BeschafÂfung der Kladden zuÂstänÂdig gewesen war (er wurde entÂlassen und angeÂzeigt), sowie von den verÂantÂwortÂlichen ChefÂredakÂteuÂren Peter Koch und Felix Schmidt, die für eine recht hohe AbÂfinÂdung von ihren Ämtern zurückÂtraten. Vor allem aber wurde ein redakÂtionsÂinterÂner UnterÂsuÂchungsÂausÂschuss eingeÂsetzt, der KlarÂheit schaffen sollte.
Der Verlag glaubte damals, eine neue ChefÂredakÂtion inÂstalÂlieren zu müssen, um wieder an GlaubÂwürdigÂkeit zu gewinnen. Peter Scholl-Latour und Johannes Gross waren den meisÂten Stern-RedakÂteuÂren deutlich zu konÂservaÂtiv. Viele lehnten sich gegen diese PerÂsoÂnalÂentÂscheiÂdung auf und fanden dafür viel UnterÂstütÂzung in der ÖfÂfentÂlichÂkeit, weil sie gar nicht um ihre MeiÂnung gefragt worden waren. Letztlich waren die Proteste erÂfolgÂreich, weil Gross sein Amt gar nicht erst antrat. Verständlich aus Sicht der RedakÂteure, aber grotesk, welch geringe Rolle das eigentÂlich UnÂfassÂbare dann noch spielte: nämlich die verÂöffentÂlichÂten TageÂbuchÂausÂzüge und die damit einÂherÂgehende Hitler-VerharmÂlosung, die wenige Wochen zuvor noch vom Stern ausgeÂgangen war.
Hatten Sie im Zuge Ihrer ForÂschungsÂarbeiten mit dem Stern bzw. dem Verlag Gruner + Jahr Kontakt?
Ja. Dabei ging es insÂbesonÂdere darum, EinÂblick zu nehmen in die TageÂbücher selbst sowie weiÂtere evenÂtuell vorhanÂdene UnterÂlagen. Beides wurde verwehrt; in letzÂterem Fall gab es auch die AusÂkunft, dass es gar kein Konvolut zu den Hitler-TageÂbüchern im Archiv gebe. Der Stern hat auch nicht den Kontakt zu mir gesucht, obwohl es mehrere GelegenÂheiten dazu gegeben hätte. Ich bedauere das, weil es mir zu keiner Zeit darum ging, den Stern an den Pranger zu stellen oder ihm Schaden zuzuÂfügen – im GegenÂteil, ich komme in meiner DisÂserÂtaÂtion gerade zum ErgebÂnis, dass das VerÂhalÂten des Stern im Skandal um die Hitler-TageÂbücher vielÂleicht eine beÂsonÂders außerÂgeÂwöhnÂliche EntÂgleiÂsung gewesen war, jedoch nur vor dem HinterÂgrund einer Zeit verÂständÂlich ist, in der also beiÂspielsÂweise dem weit rechts steÂhenÂden Hitler-VerÂharmÂloser David Irving mehrÂfach Platz in TalkÂrunden im öffentlich-rechtÂlichen FernÂsehen gewährt wurde. Nicht nur die Stern-RedakÂteure wollÂten sich mit den TageÂbuchÂinhalÂten nicht beschäfÂtigen, auch in den meisten Medien spielten sie eine weit unterÂgeordÂnete Rolle.
Gibt es also bei ZeitÂschrift und Verlag keine BemühÂung, den VorÂfall aufzuÂarbeiten?
Nein, das kann man nicht sagen. Bekanntlich wurde das Münchner Institut für ZeitÂgeschichÂte mit der ErÂforÂschung der Stern-GeÂschichÂte bis 1983 beÂaufÂtragt; der ZeitÂraum, den ich selbst unterÂsucht habe, ist also einÂgeÂschlossen. Natürlich wird den HisÂtoriÂkern bei diesem offiÂzielÂlen AufÂtragsÂproÂjekt AktenÂeinÂsicht sowie gewiss auch EinÂblick in die Hitler-TageÂbücher gewährt. Diese sollen ja nun endÂlich ins BundesÂarchiv wandern, wie Bertelsmann im April mitÂgeÂteilt hat.
Auch wenn Sie die TageÂbücher nicht einÂsehen konnten – die verÂöffentÂlichÂten PassaÂgen kennen Sie bestimmt wie Ihre WestenÂtasche. Das Konstrukt sagt ja über den FälÂscher einiges aus. Was sind denn die bemerkensÂwertesÂten PassaÂgen in dem Konstrukt?
Genau, ich kenne sie nicht zur Gänze, sonÂdern habe für mein Buch mit den vieÂlen TageÂbuchÂpassaÂgen gearÂbeiÂtet, die der Stern zur VerÂöffentÂliÂchung ausÂgeÂwählt hatte. Dabei orienÂtierte er sich an wichÂtigen, geradezu zentraÂlen EreigÂnisÂsen der GeÂschichte zwiÂschen 1933 und 1945, etwa dem soÂgeÂnannÂten „Röhm-Putsch“, den NoÂvemÂberÂpogromen 1938, dem Elser-Attentat, dem HoloÂcaust oder dem 20. Juli 1944. Da mein Buch all dies in groÂßer AusÂführÂlichÂkeit themaÂtiÂsiert, nenne ich hier nur einen beÂmerkensÂwerten TageÂbuchÂauszug, der deren PotenÂtial deutÂlich macht: Anlässlich der antiÂsemitiÂschen Pogrome vom 9. und 10. November 1938 schreibt der Tagebuch-Hitler, dass er diese primiÂtiven AusÂschreiÂtunÂgen verÂurÂteile, und leiÂtet umÂgehend MaßÂnahmen ein, die diese einÂdämmen sollen. Schon 1983 hielÂten viele KomÂmentaÂtoren diese vorÂgebÂliche HalÂtung Hitlers dazu für sehr unÂwahrÂscheinÂlich – aber: Es gibt in Büchern, die von Menschen aus Hitlers engeÂrem Umfeld verÂfasst worden sind, tatÂsächÂlich diese Version. 1983 lag diese schon vor in den Memoiren von Nicolaus von Below, Hitlers LuftÂwaffenÂadjuÂtant, und noch nach der JahrÂtausendÂwende verÂbreiÂtete sie der TeleÂfoÂnist im FührerÂbunker, Rochus Misch, in seinen vielÂverÂkaufÂten Memoiren. Es bestand also latent die Gefahr, dass sich bei der LeserÂschaft und der gesamÂten ÖfÂfentÂlichÂkeit der Gedanke festÂsetzt, dass es ja stimÂmen könnte, was „Hitler“ angeblich schreibt.
Andere TagebuchÂpassagen mit verÂgleichÂbarer SprengÂkraft stelle ich ebenso in einen KonÂtext – die Lektüre meines Buches lohnt also! Im Fall der NoÂvemÂberÂpogrome übriÂgens geht die ForÂschung heute keinesÂwegs von einem mäßiÂgenÂden Hitler aus, im GegenÂteil: Joseph Goebbels schrieb zu diesem Anlass in sein (unbeÂstritÂten echtes!) TageÂbuch, dass Hitler gewollt habe, dass die DemonÂstraÂtioÂnen weiterÂlaufen und die Juden einmal den „Volkszorn“ zu spüren bekommen.
Das Interview mit dem Autor Dr. Sebastian Barth führte Dr. Peter Kritzinger aus dem Lektorat Geschichte/ Politik/ Gesellschaft.
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