Das europäÂische MittelÂalter gilt auch ökonoÂmisch vielen als eine „dunkle Zeit“ ohne nennensÂwerte wirtÂschaftÂliche Impulse, in der ein GroßÂteil der MenÂschen mit einfachsÂten Methoden dem Boden gerade einmal die benöÂtigte NahÂrung abrinÂgen konnten. Doch dieser EinÂdruck trügt: Gerade im Zeitraum zwischen 500 und 1500 wurden viele Weichen für die ökonoÂmische EntwickÂlung der Neuzeit gestellt. Wer die moderne WirtschaftsÂwelt verstehen will, muss deshalb auch ihre Ursprünge kennen.
Nicht nur für das MittelÂalter stellt die WirtschaftsÂgeschichte eine geschichtsÂwissenÂschaftÂliche BrückenÂdisziÂplin zwischen verschieÂdenen FachÂrichÂtungen dar und vermag deshalb zahlÂreiche histoÂrische ZusammenÂhänge aufzuÂzeigen. Mit einem prägÂnanten ÃœberÂblick über die ÖkoÂnomie des euroÂpäiÂschen MittelÂalters eröffnet Sebastian Steinbach unsere neue Reihe „EinfühÂrung in die WirtÂÂschaftsÂÂgeschichte“. Neben der EinfühÂrung in das Thema ist es sein zentraÂles AnlieÂgen aufzuÂzeigen, wie wirtÂschaftsÂhistoÂrische ErkenntÂnisse gewonÂnen werden, was anhand zahlÂreicher QuellenÂinterÂpretaÂtionen anschauÂlich darÂgestellt wird.
Gewinnen Sie erste EinÂdrücke aus unserem Interview mit dem Autor.
Sebastian Steinbach
EinfühÂrung in die WirtÂschaftsÂgeschichte
Band 3: Mittelalter
2021. 292 Seiten, 31 Abb. Kart. € 26,–
ISBN 978-3-17-036716-6
Aus der Reihe „EinfühÂrung in die WirtschaftsÂgeschichte“
Herr Dr. Steinbach, bei einem mittelÂalterÂlichen Schwert interesÂsiert man sich vermutÂlich primär für dessen Gebrauch (MilitärÂgeschichte) oder die soziale Rolle, die durch ein Schwert markiert wurde (SozialÂgeschichte). Das Schwert war aber natürÂlich auch eine Ware – welche ErkenntÂnisse zieht die WirtschaftsÂgeschichte aus diesem Objekt?
Allein bei einem vermeintÂlich so klar kontexÂtualiÂsierten GegenÂstand wie einem Schwert ergeben sich zahlÂreiche wirtÂschaftsÂhistoÂrische FrageÂstellungen, die weit über den kriegeÂrischen GebrauchsÂzusammenÂhang hinausÂreichen: Woher stammten das Eisen zu seiner HerstelÂlung und die HolzÂkohle für dessen VerarÂbeiÂtung? Welche Techniken der MetallÂverarÂbeitung kamen zum EinÂsatz und welche PersonenÂkreise besaßen das nötige Wissen? Was kostete überÂhaupt ein Schwert und welche praktiÂschen AusÂwirkungen besaßen Verbote des WaffenÂhandels, wie dasjenige der Synode von Diedenhofen 805? Mit solchen Fragen beschäfÂtigen sich WirtÂschaftsÂhistoriker, wenn sie ein Schwert vor sich liegen sehen.
WirtÂschaftsÂgeschichte erscheint in den GeschichtsÂwissenÂschaften meist eher als RandÂdisziÂplin. Was macht diese ForschungsÂrichtung spannend?
Im Gegensatz zu anderen TeilÂdisziÂplinen der GeschichtsÂwissenÂschaft, wie beispielsÂweise die VerfasÂsungs- oder KirchenÂgeschichte, liefern wirtÂschafts- und sozialÂhistorische UnterÂsuchungen unmittelÂbare ErkenntÂnisse aus dem Leben der Menschen einer Epoche. Während des MittelÂalters waren etwa 80–90 % der europäÂischen BevölÂkerung in der LandÂwirtÂschaft tätig. Würde man diese in einer histoÂrischen DarÂstellung ausÂblenden, ignoÂriert man einen fundaÂÂmentalen Teil der Geschichte selbst. Und das beÂtrifft nicht nur die AgrarÂÂprodukÂÂtion an sich, sondern auch die zahlÂÂreichen ökonoÂÂmischen, techniÂÂschen, soziaÂlen und herrÂschaftsÂpolitiÂschen EntÂwickÂlungen, die direkt mit ihr verÂbunden sind. Umso mehr erÂstaunt es mich, dass in vielen EinÂführungsÂwerken zur mittelÂalterÂlichen Geschichte den wirtÂschaftÂlichen ZusammenÂhängen, wenn überÂhaupt, nur sehr wenig Raum gegeben wird. In meinen LehrÂveranÂstalÂtungen habe ich die ErÂfahrung gemacht, dass StudieÂrende ein großes InteÂresse für Handel und HandÂwerk oder Technik und GeldÂwesen entÂwickeln. VielÂleicht, weil sie schnell ein „Gefühl“ dafür bekommen, was es beispielsÂweise bedeuÂtete, eine Familie im MittelÂalter zu ernähren und welche engen Grenzen natürÂliche VorausÂsetzunÂgen wie Wetter und BodenÂbeschaffenÂheit den Menschen damals in der LandÂwirtÂschaft setzten. Zugleich aber auch, wie flexibel und innoÂvativ sie damit umzuÂgehen verstanden.
Die RücksÂtändigÂkeit des europäÂischen MittelÂalters ist zu einem geflüÂgelten Wort geworden. Welche ökoÂnomiÂschen InnoÂvationen sprechen dagegen?
Es gibt viele wirtÂschaftsÂhistoÂrische Mythen, die sich mit der VorÂstellung vom MittelÂalter verbinden. Zum Beispiel, dass die HandÂwerksÂzünfte besonders innoÂvations- oder technikÂfeindlich gewesen wären. Stattdessen lassen sich zahlÂreiche techniÂsche EntwickÂlungen wie der RäderÂpflug, die WindÂmühle, die Brille oder der horiÂzontale WebÂstuhl ausÂmachen, die ihren Ursprung im MittelÂalter hatten. Oder nehmen Sie beispielsÂweise das WahrÂzeichen Lüneburgs, den „Alten Kran“ im Hafen. Was heute zu besichÂtigen ist, wurde 1797 neu gebaut, der Kran an dieser Stelle geht aber auf das MittelÂalter zurück. Es handelte sich nur um einen von mehreÂren Kränen und eine VerordÂnung des Lüneburger StadtÂrates legte fest, welche Waren von welchem Kran zu welchem Preis zu heben waren. AllerÂdings vollÂzogen sich diese techniÂschen NeueÂrungen häufig über GeneÂratioÂnen und nur selten sind wir über die eigentÂlichen Erfinder inforÂmiert. So ist das MittelÂalter eben keine Phase des 1000-jährigen StillÂstands, sondern eher eine der einer kontinuÂierliÂchen WeiterÂentwickÂlung.
InwieÂweit haben ökoÂnomiÂsche und techÂnische InnoÂvatioÂnen des MittelÂalters für uns heute noch Relevanz?
Die Wirtschaft des MittelÂalters begegnet uns noch heute im SprachÂgebrauch in zahlÂreichen SprichÂwörtern. So geht die Redensart „Ein X für ein U vormachen“ auf die mittelÂalterÂliche RechnungsÂlegung mit römischen Zahlen zurück, bei denen ein X für 10 und ein U oder V für 5 stand. VerlänÂgerte man das V um zwei Striche, so konnte man mit einem X die Summe also auf einen Schlag verdoppeln. Im BankenÂwesen heute selbstÂverständÂliche Dinge wie der barÂgeldlose ZahlungsÂverkehr oder die VersicheÂrung wertvoller FrachtÂgüter sind im MittelÂalter entstanden. Der „Wechsel“ ermögÂlichte seit dem 13. JahrÂhundert erstmals, eine GeldÂsumme durch die Ãœbergabe eines Stückes Papier ohne den aufÂwendigen und risikoÂreichen Transport von Bargeld zu übertragen.
Das MittelÂalter war eine stark christÂliche geprägte Zeit – Ökonomie und Christentum, wie hat sich das vertragen?
Häufig eher schlecht, denn im Neuen Testament wurden der Erwerb und Besitz von Reichtum in der Regel negativ beurÂteilt. „Leichter geht ein Kamel durch ein NadelÂöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“, hatte Christus gelehrt – und so erforÂderten HandelÂsunternehÂmungen mit dem Ziel des ökonoÂmischen Gewinns eine besonÂdere LegitiÂmation. Dies betraf im BesonÂderen alle reinen GeldÂgeschäfte wie den Kredit mit ZinsÂnahme. Mit der zunehÂmenden BedeuÂtung des städÂtischen PatriÂziats, das sich aus den Reihen der reichen KaufÂleute und HandÂwerker rekruÂtierte, und dessen EinÂfluss auf die KirchenÂbauten und die KirchenÂkunst in Form von StifÂtungen entwickelÂten sich im SpätÂmittelÂalter theoÂlogische BegrünÂdungen für die Toleranz von ReichÂtümern, weil der KaufÂmann dafür Risiken auf sich nahm und den Gewinn wieder für karitaÂtive Zwecke ausgab. Auch beschäfÂtigte die DisÂkussion um den „gerechten Preis“ immer wieder die Gemüter der großen Theologen und PhiloÂsophen des Mittelalters.
Ihr Band eröffnet unsere neue fünfÂbändige Reihe „Einführung in die WirtschaftsÂgeschichte“, die Sie herausgeben. Was können unserer Leser aus diesen Büchern lernen?
Dass ökonomiÂsches Handeln schon immer eine TriebÂfeder menschÂlichen Daseins gewesen ist und DiskusÂsionen über rechtÂmäßig erworÂbenen ReichÂtum und unverÂschulÂdete Armut nicht neu sind. Aber auch, dass KlimaÂveränÂderunÂgen die menschÂliche Existenz entscheiÂdend beeinÂflussen oder gar bedrohen können und dass es sozial und ökonoÂmisch motiÂvierte MobiÂlität und MigraÂtion zu allen Zeiten der MenschÂheitsÂgeschichte gegeben hat – insgeÂsamt also zahlÂreiche Themen, die uns noch heute beÂschäfÂtigen. WirtÂschaftsÂgeschichte ist desÂhalb so aktuell wie nie. Vor allem aber soll die Reihe ein VerständÂnis für und Freude an wirtÂschaftsÂhistoÂrischen ThemenÂstellungen wecken. Wenn das gelingt, ist unser Ziel als AutoÂrinnen und Autoren erfüllt.
Das Interview mit dem Autor PD Dr. Sebastian Steinbach führte Dr. Julius Alves aus dem Lektorat des Bereichs Geschichte/ Politik/ Gesellschaft.
Bleiben Sie auf dem Laufenden –
Abonnieren Sie den Kohlhammer Newsletter