Fragen über Fragen …
Herr Brecht, kurz gesagt: Was ist das Besondere an Friedrich List?
Mit Friedrich List stand am Beginn der industriellen Moderne in DeutschÂland ein Mann, der ausgeÂsprochen klug und weitsichtig war, noch dazu als Sohn der einst Freien ReichsÂstadt Reutlingen ein „demoÂkratischer Vorkämpfer“ gewisserÂmaßen von Hause aus. Er hat die Zeichen seiner Zeit erkannt, wirtschaftÂlich und politisch. Seine damaligen „Visionen“ haben sich nicht, wie die manch anderer geistiger Größen, in Luft aufgelöst, sondern sind nach und nach so gut wie alle Realität geworden. Leider haben die Deutschen die ungute Neigung, ausÂgerechnet ihre Besten zu vergessen.
Friedrich List war Journalist, Unternehmer und Realpolitiker. Er war ein bodenÂständiger Reformer, ein Praktiker durch und durch. Er war der seltene Fall eines deutschen Intellektuellen, der nicht von der Idee, sondern von der WirklichÂkeit ausging. Was können wir heute noch von ihm lernen?
Friedrich List hat Wirtschaftspolitik zu einer öffentlichen AngelegenÂheit und damit auch populär gemacht. Die politische BeteiÂligung der BürgerÂschaft war ihm aus seiner reichsÂstädtischen Herkunft und Sozialisation etwas SelbstÂverständliches. So hat er auch seine historische Großtat, die Kampagne zum Aufbau eines deutschen EisenbahnÂwesens, gestartet. Man könnte sagen, er hat damals das, was wir heutzuÂtage als Public-Private-Partnership bezeichnen und was er im amerikanischen Exil schon hautnah erlebte, in DeutschÂland eingeführt. List, immer engagiert, überaus sachÂkundig und agil, war ein NetzÂwerker von hohen Graden. Im Grunde sind wir heute in einer ganz ähnlichen Lage: alle großen wirtschaftlich-technoÂlogischen HerausÂforderungen der Zeit können nur durch ein möglichst kluges ZusammenÂspiel öffentlich-staatlicher und privater Kräfte bewältigt werden.
Welche Einstellung hatte Friedrich List zur klassisch-liberalen WirtschaftsÂtheorie?
List beneidete England um seine Offenheit, seine bürgerÂlichen Freiheiten und seine parlamenÂtarische Tradition. Aber er erkannte auch den mitunter eklatanten WiderÂspruch zwischen liberaler Ideologie einerseits und dem pragmatischen politischen Handeln andererÂseits. Alles allzu theoretisch Abstrakte weckte ohnehin sein Misstrauen. Im Prinzip hat sich an der GrundÂkonstellation bis heute nicht viel geändert: Während die klassisch-liberale Theorie, sicherlich methodisch verfeinert und inhaltlich differenziert, doch in ihren KernÂbotschaften weitgehend unverändert, die Lehre an den Universitäten und Akademien bis heute bestimmt, wird reale WirtschaftsÂpolitik à la List gemacht.
Das bewährte „Geschäftsmodell“ unserer Wirtschaft, das auf starker Globalisierung, offenen Märkten, preisgünstig verfügbarer Energie und einem großen Reservoir an qualifizierten ArbeitsÂkräften beruhte, steht in Frage. Mit Kriegen, die enorme Auswirkungen auf die WeltÂwirtschaft haben können, hatte man nicht mehr gerechnet. Der erhoffte weltweite Sieg von Demokratie und MarktÂwirtschaft ist ausgeblieben oder zumindest in weite Ferne gerückt.
Kann uns die ErfahrungsÂwelt eines Friedrich List da weiterhelfen?
List hat in seiner Jugend einen EpochenÂwechsel nicht nur hoffnungsfroh, sondern auch schmerzlich erlebt. Er wusste, was es heißt, wenn Dinge ins Rutschen kommen und allseits große Unsicherheit herrscht. Im Gegensatz zu heute hat es damals ein „deutsches GeschäftsÂmodell“ noch gar nicht gegeben. Es musste erst entwickelt werden, und man darf in List seinen HauptÂprotagonisten sehen. Die Hoffnungen aller liberal-progressiven Kräfte, zu denen List zweifellos gehörte, waren auf den zu schaffenden NationalÂstaat gerichtet. Nun sind wir heute in viel stärkerem Maße global verflochten, in Bündnisse, Allianzen und supraÂnationale Ordnungen eingebunden. Aber das GrundÂbedürfnis ist dasselbe geblieben: Bürgerinnen und Bürger sind auf einen funktionierenden WirtschaftsÂraum angewiesen, und sie erwarten effektiven Schutz vor feindÂlichen Einwirkungen. Es hat nicht den Anschein, dass dabei der NationalÂstaat in absehbarer Zeit überflüssig werden könnte.
War List ein Befürworter des Freihandels oder ein Protektionist?
Friedrich List hat die Kernaussagen der liberalen AußenÂhandelsÂtheorie nicht bestritten. Er hat aber dafür plädiert, dass Staaten, die zwar großes Potenzial, aber doch erhebliche EntwicklungsÂrückstände haben, den Freihandel – wenn auch nur gezielt und für bestimmte Zeit – einschränken sollten, um eigene „produktive Kräfte“ in den betreffenden Sektoren entwickeln zu können. Deshalb kann es ratsam sein, von einem TauschÂoptimum abzuÂweichen und damit kurzfristige Nachteile in Kauf zu nehmen, um langÂfristige Vorteile zu erzielen. Nach List ist die Fähigkeit, Wohlstand zu generieren, wichtiger als der Wohlstand selbst. Japan, China oder auch Südkorea waren mit dieser Strategie erfolgreich. Kein Wunder, dass List dort an den Universitäten immer noch eine gewisse Rolle spielt. Im Ãœbrigen, was in den USA etwa in Sachen Chips Act oder Inflation Reduction Act derzeit läuft und mit einigem Erfolg praktiziert wird, weist ebenfalls Bezüge zum List’schen Denken auf. Keine Frage: Wir leben in einer Welt wachsender HandelsÂkonflikte. Wir erleben eine massive RepolitiÂsierung alles Ökonomischen. Deshalb kann man sagen, dass die Theorie des internationalen Handels von David Ricardo, die Praxis aber von Friedrich List beschrieben wird.
Herr Brecht, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Karin Burger aus dem Lektorat Geschichte/Politik.
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Roland Brecht
Friedrich List
Bürger, Patriot und Visionär
2023. 336 Seiten mit 25 Abb. Kart.
€ 25,–
ISBN 978-3-17-044031-9