Solange ich schreibe, lebe ich!

Durch eine Reihe glücklicher Fügungen gelangte eine Sammlung von Briefen in die Hände von Hanan Al Obaidat. Es stellte sich heraus, dass es sich um rund 630 Briefe ihres Großvaters Alfons Stopp an seine Frau Helmi aus der Zeit von 1941 bis 1945 handelt.

Die Eindrücke in den Briefen entführten Frau Al Obaidat in eine andere Zeit, in eine Welt des Krieges und der Gewalt. Die Briefe dokumentieren die junge Liebe ihrer Großeltern, ihre Ansichten von Partnerschaft und Ehe sowie ihr fragiles Glück in Zeiten des Kriegs. Doch in der kleinen und alltäglichen Welt ihrer Großeltern spiegelt sich vielfach auch die große Geschichte wider. Und so beschloss Al Obaidat, eine Auswahl der Briefe knapp zu kommentieren und als Buch herauszugeben…

Umschlagabbildung des Buches

Hanan Al Obaidat
Solange ich schreibe, lebe ich!
Briefe 1941-1945

2022. 192 Seiten, 38 Abb., 3 Karten. Kartoniert. € 25,–
ISBN 978-3-17-041014-5

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Sehr geehrte Frau Al Obaidat, erzählen Sie doch bitte kurz, wie Sie in den Besitz der Briefe Ihres Großvaters gelangt sind.

Im Jahre 1998 waren meine Mutter und ich dabei, den Keller des Hauses meiner verstorbenen Großmutter Helmi zu entrümpeln. Wir stießen dabei auf einen alten Koffer, den wir aus irgendeinem Grund ungeöffnet zum Sperrmüll auf die Straße stellten. Noch am gleichen Abend klingelte ein Mann an der Haustür und brachte uns den Koffer zurück. Er meinte, dass wir den Inhalt sicher behalten wollten. Zu unserem großen Erstaunen befanden sich darin Briefe, die mein Großvater Alfons während des Krieges an meine Großmutter geschrieben hatte.

Was wussten Sie von Ihren Großeltern vor der Lektüre der Briefe?

Alfons als junger Mann
Alfons als junger Mann.

Vor der Lektüre wusste ich so gut wie gar nichts von meinem Großvater, außer dass er ein gebildeter Mensch war und von Beruf anfangs Mönch. Die Erinnerungen meiner Mutter und meines Onkels sind auch blass und leider hatte meine Großmutter auch nie über ihn geredet.

Ich lebte ja bis zum zehnten Lebensjahr in Bahrain und konnte somit erst später mit meiner Großmutter mehr Zeit verbringen. Sie war eine zurückhaltende, ruhige Frau und hat nicht viel geredet. Für ihre Depression nahm sie Medikamente ein. Das spürte man. Trotzdem verwöhnte sie uns mit vielen Geschenken und mit gutem saarländischem Essen.

Wie hat sich Ihr Bild von Ihren Großeltern im Verlauf der Lektüre der Briefe gewandelt?

Durch die Lektüre der Briefe bekam ich einen Einblick in Alfons’ Denkweise: Seine Träume, Ängste und politischen Ansichten. Es hat mich außerdem fasziniert zu sehen, wie stark seine Liebe zu meiner Großmutter war.

Helmi als junge Frau
Helmi als junge Frau.

Nach der Lektüre habe ich verstanden, warum meine Großmutter so traurig war. Sie war durch die Ereignisse einfach traumatisiert. Und ich war erstaunt, was für eine beeindruckende, lebensfrohe, emanzipierte Frau sie gewesen war.

In den Briefen Ihres Großvaters spielt der Krieg direkt oder indirekt immer eine prominente Rolle. Hat dieses gewissermaßen ‚direkte Erleben‘ des Krieges Ihre Vorstellung von dieser Zeit verändert?

Natürlich kannte ich die Historie des Krieges aus Büchern und dem Fernsehen. Aber während der Lektüre war ich mittendrin und es hat mich z. B. erschüttert zu lesen, dass mein Großvater vor lauter Durst Schnee essen musste, um zu überleben. Oder dass er mit wunden Füßen 70 km an einem Tag ohne Verpflegung marschieren musste.

Alfons mit einer russischen Familie
Alfons mit einer russischen Familie.

Über allem sah ich seine innere Zerrissenheit zwischen seinen eigenen Idealen und den Idealen des Nationalsozialismus. Ich denke, dass das in vielerlei Hinsicht beispielhaft für die ganze Kriegsgeneration war.

Der Nationalsozialismus hat unsagbares Leid über unzählige Individuen und ganze Nationen gebracht. Man fragt sich als Nachgeborener: Wie konnten die Menschen so etwas zulassen, ja mittragen? Geben die Briefe auf diese Frage eine Antwort?

Helmi mit ihrer Tochter Brigitte, der Mutter der Autorin, die am 16.2.1945 geboren wurde.
Helmi mit ihrer Tochter Brigitte, der Mutter der Autorin, die am 16.2.1945 geboren wurde.

Wie man es zulassen konnte – darauf geben die Briefe direkt keine Antwort. Man muss zwischen den Zeilen lesen. Bei meinem Großvater sehe ich, dass die Propaganda stark auf ihn gewirkt hat. Er hatte allenfalls das Radio als Informationsquelle. Die Menschen wurden systematisch belogen, z. B. über die Wirkungskraft neuer Wunderwaffen, mit der man den Krieg gewinnen wollte. Die Vorstellungen meines Großvaters über Ehre und Opfer für das Vaterland, sein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Kulturen waren vielfach wörtlich der nationalsozialistischen Propaganda entlehnt.

Was haben Sie von den Briefen gelernt? Was können wir als Gesellschaft lernen?

Ich habe erkannt, dass praktisch jeder Mensch von falschen Idealen geleitet sein kann. Und ich habe gelernt, dass wir mehr Gewicht auf unsere religiösen und moralischen Werte legen sollten, die Liebe und Frieden lehren.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in der Ukraine müssen wir schmerzhaft zur Kenntnis nehmen, dass Frieden und Freiheit nicht selbstverständlich sind. Wir müssen an uns selbst im Kleinen und als Gesellschaft im Großen daran arbeiten, diese wertvollen Güter zu erhalten. Unsere Wachsamkeit darf keinen Augenblick erlöschen.


Das Gespräch mit Hanan Al Obaidat führte Dr. Peter Kritzinger aus dem Lektorat Geschichte/ Politik.

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