Constanze Schulze-Stampa über ästhetisches Erleben und Erfahren im Krankenhaus

Dr. Constanze Schulze-Stampa

Dr. Constanze Schulze-Stampa ist Professorin für Kunsttherapie an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU). In ihrem zusammen mit Gabriele Schmid, Professorin für Ästhetische Bildung an der Hochschule für Künste im Sozialen (HKS) in Ottersberg, herausgegebenen Buch „Kunst und Krankenhaus. Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Perspektivwechsel in Gesundheitsförderung und Prävention“, zeigt sie, welche Potenziale und Wirkungen von Kunst und künstlerischen Therapieformen in der psychosozialen Versorgung ausgehen und wie ästhetisches Erleben und Erfahren Menschen in ihrem Genesungsprozess unterstützen kann.

Umschlagabbildung des Buches

Constanze Schulze-Stampa/Gabriele Schmid (Hrsg.)
Kunst und Krankenhaus
Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Perspektivwechsel in Gesundheitsförderung und Prävention

2020. 203 Seiten, 49 Abb., 2 Tab. Kart. € 49,–
ISBN 978-3-17-036380-9

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Gerade Kunst und Kultur wurden seit Beginn der Corona-Pandemie stark vernachlässigt und sind ungewollt in den Hintergrund geraten. Nicht zuletzt wirkt sich dies auf die psycho- und kunsttherapeutischen Maßnahmen in Krankenhäusern aus. Wenn Sie die ganz aktuelle Situation der Krankenhäuser vor Augen haben: Welche Gedanken kommen Ihnen dann zuerst in den Sinn und wo würden Sie dahingehend Ihr Buch als unverzichtbare Lektüre für Krankenhäuser und Kliniken sehen?

Zunächst denke ich sofort daran, wie wichtig es ist, ein Bewusstsein für den Stellenwert von Kunst und deren Anwendung in sozialen und gesundheitsrelevanten Feldern zu entwickeln. Voraussetzung dafür ist eine anschauliche, praxisnahe und wissenschaftlich fundierte Vermittlung der Potenziale und Wirkungen von Kunst und künstlerischen Therapieformen in der psychosozialen Versorgung. Gerade in der aktuellen Corona-Zeit konnten viele PatientInnen von künstlerischen Angeboten auch in neuen digitalen Formaten profitieren.

Kunst bzw. künstlerische Tätigkeit unterstützt nachweislich den Genesungsprozess, fördert schöpferische Potenziale und wirkt ganzheitlich gesundheitsfördernd. Der gestaltende und teilweise auch spielerische Umgang mit künstlerischen Medien intensiviert das Selbsterleben und die situative Wahrnehmung, was wiederum die Emotionsregulation während einer Behandlungszeit im Krankenhaus verbessern kann. Auftretende Erinnerungen, Lebensthemen, Erfahrungen oder Erlebnisse können so dosiert aufgegriffen werden und einen visuellen Ausdruck finden. PatientInnen sind in den Künstlerischen Therapien als erlebnis- und handlungsorientierte Form aktiv beteiligt. Aus dieser Sicht wird verbale Psychotherapie von den Künstlerischen Therapien substanziell und komplementär aufgewertet.

Eine jüngst von der WHO (2019) vorgelegte Übersichtsarbeit mit über 900 ausgewerteten Studien zum Verhältnis von Kunst und Gesundheit untermauert dies. Die Übersichtsarbeit hält nachdrücklich dazu an, künstlerischen Therapien eine größere Bedeutung im gesamten Versorgungs- und Gesundheitswesen beizumessen und entsprechende Initiativen in Praxis und Forschung dafür zu ergreifen. Die Zusammenführung von künstlerischem und wissenschaftlichem Wissen erweitert dabei therapeutische, diagnostische und patientenorientierte Zugänge. Ihre Integration und Anerkennung muss sich jedoch noch vielerorts in Krankenhäusern etablieren und auch optimieren. Es gilt daher, das Klinikpersonal für dieses Thema zu begeistern und einen offenen Austausch darüber anzustoßen. Wissenschaftliche Grundlage dafür sind einerseits der überzeugende Nachweis ihrer Effektivität und anderseits eine gute und wertschätzende multiprofessionelle Zusammenarbeit und Kooperation in Forschung und Praxis.

Unser Buch liefert neben den theoretischen Grundlagen auch eine Dokumentation multiprofessioneller Projekte aus verschiedenen Forschungsperspektiven. Dieser Aspekt macht das Buch so einzigartig.

Dr. Constanze Schulze-Stampa
Isaak Abrams, All Things are One Thing, 1967

Ihr Hauptanliegen ist also …

… das Herausstellen gesundheitsrelevanter Potenziale und Wirkungen von Kunst im Krankenhaus sowohl als Organisation und medizinische Institution als auch als spezifischer Lebensraum. Und wir als AutorInnen möchten zudem Licht in ein differenziertes Verständnis von künstlerischem und künstlerisch-therapeutischem Handeln und Interagieren bringen und anhand ausgewählter Projektbeispiele aufzeigen, inwieweit das Krankenhaus auch eine innovative Plattform für jüngere KünstlerInnen sein kann, die sich mit zukunftsweisenden Fragen und Ideen interaktiver (performativer) Kunstvermittlung im Horizont von Gesundheit beschäftigen.

In Ihrem Buch sprechen Sie vom Spannungsfeld zwischen Kunst und Therapie. So schreiben Sie auf S. 183:
„Im Verlauf der einzelnen Projektphasen konnten Spannungsfelder von Kunst und Therapie für die Beteiligten zum Teil wahrnehmbar, sichtbar, atmosphärisch spürbar und im eigenen kreativen Tun unmittelbar erlebt werden.“
Wie macht sich dieses Spannungsfeld bemerkbar und weshalb ist es so wichtig, das Spannungsfeld ‚wahrnehmbar‘ und ‚erlebbar‘ für die Beteiligten zu machen?

Die Formulierung „Spannungsfeld zwischen Kunst und Therapie“ bezieht sich auf die Beschreibung der Charakteristika, der Möglichkeiten und Herausforderungen der Kunsttherapie. Kunsttherapie als spezielle Therapieform gehört zu den psychosozialen Angeboten in der klinischen Versorgung, in der sich therapeutisches und künstlerisches Wissen – theorie- und praxisbezogen – vielschichtig und engmaschig miteinander vernetzen. Konsequenterweise orientiert sich die jeweilige Zielformulierung sowohl am Verständnis des jeweils therapeutischen Auftrages, z. B. der Behandlung der Schmerzsymptomatik, als auch an wirksamen Aspekten des bildnerisch-künstlerischen Arbeitens. Ästhetisches Erleben und Erfahren bietet für PatientInnen (ungeahnte) Möglichkeiten zur Identitäts- und Sinnfindung in einer als entfremdet erlebten Umwelt, z. B. in einer Krankheits- oder Krisensituation. Durch die schöpferische und teils auch spielerische Auseinandersetzung mit verschiedenen künstlerisch-kreativen Materialien, wie z. B. Stift, Pinsel, Papier, Tonerde, werden kreative Potenziale und individuelle Fähigkeiten des Menschen angeregt. Kunst, künstlerische Tätigkeit erzieht und weckt – so sagte es schon Wilhelm Salber 1999 – unsere Möglichkeiten der Selbstbehandlung. Sie intensiviert und vertieft alltägliche Lebenserfahrungen, hilft, Lösungen für Probleme bzw. Problemkonstellationen handelnd zu erproben und Zusammenhänge – zunächst auf bildnerischer Ebene – zu erkunden und zu reflektieren. KunsttherapeutInnen bedürfen daher einer professionellen Doppelqualifikation: Sie erwerben und vertiefen im Studium ein künstlerisches Profil und entwickeln begleitend umfängliche therapeutische Kompetenzen.

Wen möchten Sie mit diesem Buch ganz besonders ansprechen?

Im ersten Schritt vor allem Praktiker und Entscheidungsträger im Gesundheitswesen, welche für die Umsetzung in Gesundheitseinrichtungen zuständig sind, aber im zweiten Schritt auch in der Forschung und Lehre Tätige, welche das wissenschaftliche Fundament hierfür weiter ausbauen, um die Künstlerischen Therapien zunehmend etablieren zu können.

Was unterscheidet der besondere Ansatz Ihres Buches von anderen Werken zum Thema Kunsttherapie/Psychotherapie?

Unser Buch unterscheidet sich insofern von anderen Publikationen zu Gesundheitsförderung und Prävention, dass es die Beziehungszusammenhänge von Kunst und Krankenhaus, Kunst und Gesundheit, sowie Kunst und Kunsttherapie aus verschiedenen Theorie- und Praxispositionen thematisiert. Inter- und transdisziplinäre Perspektivenwechsel sollen den Stellenwert von Kunst, speziell zeitgenössischer Kunst, für die klinische Praxis und Forschung für alle KrankenhausmitarbeiterInnen anschaulich und nachvollziehbar machen.

Frau Schulze-Stampa, wir danken Ihnen sehr für Ihre Ausführungen und Einblicke in die Bedeutung von Kunst im Krankenhaus!

Das Interview führte Sabrina Bressel aus dem Lektorat des Bereichs Krankenhaus/ Gesundheitsmanagement.

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