Dr. Michael Beier, Leitender Arzt der Zentralen Notaufnahme medius KLINIK OSTFILDERN-RUIT, zugleich Klinischer Risikomanager medius KLINIKEN und Mitautor der Werke „Rechtsfragen in der Notaufnahme“ und „Fallbuch Recht in der Pflege“, beantwortet Fragen zur Arbeit in den Notaufnahmen – nicht nur in Zeiten von COVID-19. Auf Rechtsfragen zur Triage wird in den Büchern ebenso eingegangen wie auf Einsatzfelder anderer Berufsgruppen in der Ambulanz. Thematisiert werden auch Praxisfragen zu gewalttätigen und psychisch veränderten Patienten oder fremdsprachlichen und religiös besonderen Patienten. Es wird deutlich, dass eine medizinische Behandlung immer zugleich auch von einer rechtlichen Dynamik begleitet wird und beides meist ad hoc gelöst werden muss.
Porten/Schmid/Dubb/Beier/Kaltwasser/Witt
Rechtsfragen in der Notaufnahme
Grundlagen mit Hinweisen für die Praxis
2020. 145 Seiten. Kart. € 39,–
ISBN 978-3-17-033634-6
Im Zuge der hohen Fallzahlen von Corona-Patienten in den Krankenhäusern stehen die Notaufnahmen derzeit im besonderen Fokus der Bevölkerung: Sie sind die ersten Anlaufstellen bei akuten schweren Krankheitsverläufen. Und häufig fällt hier die Entscheidung, wo und wie die Patienten weiterversorgt werden. Was würden Sie als die aktuell größten Herausforderungen für die Notaufnahmen der Krankenhäuser bezeichnen?
Die bedeutendste Herausforderung in diesem Jahr ist mit Abstand, Sie haben es angedeutet, der Umgang mit dem Coronavirus. Die Situation fordert uns extrem. Da gibt es medizinische Themen im Umgang mit der für uns neuartigen Erkrankung und natürlich das Thema Infektionsschutz, also Schutz der Mitarbeiter und Mitpatienten. Angefangen von neuen Zugangswegen in die Klinik – wir haben beispielsweise eine eigene Schleuse betrieben – über die Beschaffung und Regelung des Umgangs mit Schutzkleidung, medizinischem Material und der Sicherstellung einer ausreichenden personellen Ausstattung. Jetzt, in der zweiten Welle, wandeln sich die Rahmenbedingungen erneut: neue Testmöglichkeiten einerseits, eine steigende Gefahr durch den asymptomatischen COVID-kranken Patienten oder Mitarbeiter andererseits.
Das ist freilich nur ein Aspekt unseres Alltags. Weniger spektakulär, aber für uns Notfallmediziner von ganz großer Bedeutung: Wir erleben gerade die Umsetzung einer für unser Land völlig neuen Art, „Notaufnahme“ zu denken. In den letzten Jahren ist eine eigene ärztliche und pflegerische Weiterbildung mit Prüfung entstanden; die Bezeichnung „Klinische Akut- und Notfallmedizin“ bzw. „Notfallpflege“ macht uns stolz und ist gleichsam Verpflichtung. Gleichzeitig ist die Bedeutung der Notaufnahme durch konkrete infrastrukturelle und prozessuale Vorgaben durch den G-BA-Beschluss zur Notfallversorgung auch politisch hoch aufgehängt worden. Es ist offensichtlich, dass die Politik und die Klinikträger das Potenzial einer guten, modernen Notaufnahme erkannt haben. Für uns ist das Herausforderung und Chance zugleich und ich habe den Eindruck, es gelingt uns gerade in der gesamten Republik ganz gut, zu beweisen, dass man auf uns zählen kann.
Auch außerhalb der aktuellen Pandemielage stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Notaufnahmen oft Situationen gegenüber, die man zunächst nicht mit dem medizinischen Wirken assoziieren würde.
Wir versorgen zumeist uns unbekannte Menschen in medizinischen Ausnahmesituationen; wenngleich Erkrankungen und Verletzungen wie Herzinfarkt, Magenblutung oder Knochenbrüche unser typisches Spektrum darstellen, offenbaren sich bei uns auch soziale Probleme, oft ausgelöst und verstärkt durch Armut, menschliche Schicksale, häufig in Verbindung mit dem Konsum von Alkohol oder anderen Drogen. Diese Mischung führt in den Notaufnahmen in unterschiedlicher Häufigkeit zu Gefahrensituationen für unsere Teams. Eine besondere Rolle spielen dabei Designerdrogen, weil sie zu unvorhersehbaren und nicht abschätzbaren Gewaltausbrüchen führen, gepaart mit einer unglaublichen körperlichen Kraft der Betroffenen. Sprachliche Barrieren kommen immer häufiger hinzu; gute Medizin braucht eine solide Basis, bestehend aus der körperlichen Untersuchung und der Befragung von Symptomen, Krankheitsverlauf, Begleitumständen und Vorerkrankungen. Diese sogenannte Anamnese wird durch Verständigungsprobleme immens erschwert, kreative Lösungen sind hier gefragt.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Notaufnahmen müssen sich dabei nicht nur fachlich-medizinisch, sondern auch juristisch korrekt verhalten. Gibt es aus Ihrer Sicht ein notaufnahmespezifisches Problem?
Notaufnahmemedizin bedeutet Akutmedizin – unsere Erkrankungssituationen sind stark dynamisch geprägt und definieren damit unsere Reaktionsmuster. Hat man erkannt, dass jede medizinische Handlung einen rechtlichen Rahmen hat, wird klar, dass eine dynamisch-komplexe medizinische Situation von einer vergleichbaren rechtlichen Dynamik begleitet werden kann. Wie die medizinischen müssen wir auch die rechtlichen Probleme meist ad hoc lösen – überwiegend in Zeiten, in denen der Krankenhausjurist nicht greifbar ist. Es liegt in der Natur unserer Aufgabe, dass es eine Trennung zwischen Regeldienst und Notfallbetrieb nicht gibt.
In den beiden aktuell neu erschienenen Bücher „Rechtsfragen in der Notaufnahme“ und „Fallbuch Recht in der Notaufnahme“ werden diese Themen anschaulich aufgegriffen. Auf welche Art und für welche Zielgruppen sind die beiden Bücher besonders wertvoll?
Da es bei der rechtlichen Bewertung auf die Umstände des Einzelfalls ankommt, führt eine Beschränkung auf wenige „preplaned solutions“ nicht weiter. Wir müssen unsere Teams dazu bringen, auf einfacher Basis medizinische und rechtliche Handlungsmöglichkeiten parallel zu prüfen und so eine zielgerichtete, in beiderlei Hinsicht einwandfreie Leistung abzurufen. Das ist der Ansatz unserer beiden Bücher. Wir sind davon überzeugt, dass es fundamentaler Grundkenntnisse als Handwerkszeug bedarf, die man an Fallbeispielen anwenden und für sich selbst entwickeln kann. Ich glaube, dass uns das mit den beiden Bänden gelungen ist. Die Kombination mit den beschriebenen juristischen Simulationstrainings meiner Mitautoren zeigt einen durchdachten und gleichermaßen aufregenden Weg zur rechtlichen Handlungsstärke in der Notaufnahme. Rechtskenntnisse sind übrigens in jeder Berufsgruppe erforderlich; die typischen Probleme, wie Umgang mit Geheimnissen, Rechtsgrundlagen medizinischer Maßnahmen oder gar Notwehrrecht, treffen uns alle gleich.
Können Sie uns evtl. ein prägnantes Fallbeispiel kurz skizzieren?
Sehr gerne. Das mit der Prägnanz ist übrigens ein guter Punkt – „prägnant“ werden die Beispiele fast alle und zwar genau dann, wenn die von uns skizzierten Fälle dem unerfahrenen Kollegen im Nachtdienst um 3 Uhr begegnen. Spannend finde ich z.B. die Fragen rund um das Thema Schweigepflicht – hier kollidiert das Rechtsempfinden des Einzelnen oft mit den Grundprinzipien der Rechtsordnung, was das korrekte Verhalten erschweren kann. Nehmen wir zum Beispiel den betrunkenen Verursacher eines schweren Unfalls. Er wird ambulant in der Notaufnahme behandelt. Am Aufnahmetresen steht die Polizei und fragt im Rahmen der Fahndung, ob der flüchtige Unfallverursacher im Krankenhaus behandelt wird. Natürlich sind aus Sicht des Verursachers sein Aufenthaltsort und seine Verwicklung in den Unfall ein Geheimnis, das keinesfalls verraten werden darf. Man fragt sich dann: Darf ich was sagen? Das polizeiliche Begehren ist verständlich und obendrein möchte niemand einen betrunkenen Autofahrer in seinem Fehlverhalten „unterstützen“ – aber als Offenbarungsbefugnis reicht das nicht.
Auch sonst ist keine Offenbarungsbefugnis erkennbar. Die Rechtsordnung ermöglicht, dass sich auch ein (mutmaßlicher) Straftäter in medizinische Behandlung begeben kann, ohne die Angst haben zu müssen, deshalb „erwischt“ zu werden. Das kann man gut oder schlecht finden – Recht bleibt Recht, eine Auskunft kann nicht erteilt werden. Etwas anders liegt übrigens der Fall, wenn der Patient stationär ist; im Rahmen der Meldevorschriften müssen einige persönliche Daten preisgegeben werden – aber eben nicht im Kontext zum Aufenthaltsgrund. Also: Persönliche Daten werden verraten, der Grund des Kommens nicht. Sie sehen schon an diesem Beispiel, dass es die ganz einfachen Antworten nicht gibt. Deshalb brauchen wir Juristen, um rechtliche Sachverhalte solide aufzuarbeiten. In der Akutsituation sind diese allerdings kaum rechtzeitig greifbar. Hier hilft uns nur eine juristische Grundlagenkenntnis, um korrekt handeln und uns in letzter Konsequenz vor rechtlichen Konsequenzen schützen zu können. Außerhalb der unmittelbaren Akutsituation empfehle ich, erforderlichenfalls niederschwellig die fachkundige Hilfe eines spezialisierten Juristen in Anspruch zu nehmen.
Das Interview führte Anne Borgböhmer, LekÂtorat KrankenÂhaus/ GesundheitsÂmanagement.
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