Neurologie – Forschung, Praxis, Qualitätssicherung
Im Gespräch mit Prof. Dr. med. Hans‑Christoph Diener, Gründungsherausgeber des Werkes „Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen“

In welchen Gebieten der neurologischen Forschung gab es in den letzten Jahren die weitreichendsten, spannendsten Entwicklungen? Welche von diesen sind bereits in der Praxis angelangt, welche in der näheren Zukunft zu erwarten?
Quer über alle neurologischen Erkrankungen gibt es immense Fortschritte in der Epidemiologie und Genetik. Gerade die Erkenntnisse aus der Genetik sind wichtig, um die Pathophysiologie von Krankheiten zu verstehen und daraus neue Therapieansätze zu entwickeln.
Was sich momentan in der Therapie tut, sind Antisense-Oligonukleotid-Therapien und Gentherapien. Das spektakulärste Beispiel hierfür ist die Spinale Muskelatrophie, bei der beide Therapieansätze zwischenzeitlich etabliert sind. Bei Säuglingen kann eine Gentherapie ganz offensichtlich das Fortschreiten der Erkrankung bremsen und Kindern eine fast normale motorische Entwicklung ermöglichen. Darüber hinaus sind intrathekale und oral verfügbare Therapien in der Lage, die Spinale Muskelatrophie bei Jugendlichen und Erwachsenen zu stoppen und bei ca. 40 % der Betroffenen deren Symptome zu verbessern.
Große Fortschritte gibt es bei der Behandlung des Frühstadiums der Alzheimer-Erkrankung. Hier haben zwei monoklonale Antikörper gegen Betaamyloid gezeigt, dass sie die Krankheitsprogression verlangsamen können und die Betaamyloid-Ablagerungen im Gehirn signifikant reduzieren. Die praktische Umsetzung dieser Therapie erfordert allerdings immense logistische Anstrengungen und wird mit extrem hohen Kosten verbunden sein.
Unter dem Fachbegriff der „Nervenheilkunde“ wurden im 20. Jahrhundert über einen langen Zeitraum noch Erkrankungen gefasst, die in ein breites Spektrum fielen. Im Laufe der Jahre haben sich Neurologie und Psychiatrie als jeweils eigenständige Fachgebiete immer stärker ausdifferenziert und wechselseitig „emanzipiert“.
Ist der Eindruck richtig, dass sich beide Disziplinen zuletzt wieder stärker aufeinander zubewegen, und sofern ja, worin liegt dies begründet?
Ja, dieser Eindruck ist ganz sicher richtig. Begründet liegt dies darin, dass die meisten neurodegenerativen Erkrankungen wie die Alzheimer-Demenz oder der Morbus Parkinson eine erhebliche psychiatrische Komorbidität aufweisen, beispielsweise in Form von Psychosen, Depressionen oder den Leitsymptomen der Demenz. Auch Neurologen müssen in der Lage sein, solche Begleiterkrankungen zu behandeln – wozu sie in der Regel auch gut in der Lage sind, da sie im Rahmen ihrer Facharztausbildung eine psychiatrische Teilausbildung erhalten haben. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass es immer mehr Biomarker zur frühen Erkennung neurodegenerativer Erkrankungen gibt – ein Feld, auf dem Neurologen engagiert sind.
Wie steht es aktuell um die Aus-, Fort- und Weiterbildung junger Neurologinnen und Neurologen im stationären und ambulanten Bereich?
Wir haben die erfreuliche Entwicklung, dass die Neurologie das am schnellsten wachsende Fach aller Facharztdisziplinen ist und wir haben eine sehr große Zahl von jungen Neurologinnen und Neurologen, die speziell in der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) vertreten sind, u.a. mit einer eigenen Untergruppierung „Junge Neurologen“, die auch in allen Gremien der Fachgesellschaft repräsentiert ist. Überhaupt lässt sich feststellen, dass die DGN sehr großen Wert darauf legt, dass die jungen Kolleginnen und Kollegen sehr gut ausgebildet werden, und das funktioniert hervorragend. Die DGN hat derzeit (Oktober 2023) über 12.000 Mitglieder.
Welche Schäden kann SARS-CoV-2 im Gehirn anrichten und was ist über die Folgen bekannt? Gibt es therapeutische Ansätze?
Es gibt ein interessantes Phänomen: In der Zwischenzeit gibt es rein zahlenmäßig genauso viele Publikationen allein über Covid wie über den gesamten Rest der Medizin. Tatsächlich gibt es vielfältige neurologische Manifestationen, die inzwischen gut beschrieben sind, wie Schlaganfälle, Guillain-Barré-Syndrom, Polyneurotiden, Enzephalomyelitiden, Fazialisparesen und andere Hirnnervenausfälle, die zum Glück sehr selten sind. Daneben gibt es die Langzeitfolgen, eben Long Covid, bei denen wissenschaftlich heftig darüber gestritten wird, ob es sich dabei um Manifestationen funktioneller Natur oder aber wie bei anderen chronischen Müdigkeitssyndromen um eine Fehlfunktion handelt, die durch Freisetzung von Interleukinen während der Erkrankung selbst ausgelöst wurde. Das zweite wichtige Thema für die Neurologie sind die potenziellen Folgen von Impfungen.
Welchen spezifischen Beitrag kann das Werk „Verlauf und Therapie neurologischer Erkrankungen“ für die Qualitätssicherung ärztlicher Praxis leisten?
Seit Erscheinen der letzten Auflage (2017) hat es viele randomisierte und kontrollierte Studien gegeben, zum Teil Placebo-kontrolliert, zum Teil Vergleichsstudien zwischen verschiedenen Therapien, so dass der Evidenzgrad der Empfehlungen, die gegeben werden, deutlich zugenommen hat. Gegenüber den Therapieleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat die Neuauflage des „Therapiebuches“ das Privileg, nicht nur auf die Therapie, sondern ausführlich auf den natürlichen Verlauf und die Pathophysiologie eingehen zu können.
Ein ganz wesentlicher Vorteil für die neurologische Praxis besteht darin, dass dabei tatsächlich evidenzbasierte und in ihrer Relevanz abgestufte Therapieempfehlungen gegeben werden. Insofern stellt das „Therapiebuch“ für alle neurologisch tätigen Kolleginnen und Kollegen eine sehr wertvolle Ergänzung der Leitlinien der DGN und damit eine wichtige Hilfe in ihrem klinischen Alltag dar.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Mühe!
Diener/Gerloff/Dieterich/Endres (Hrsg.)
Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen
8., erw. und überarb. Auflage 2023
1.550 Seiten. Fester Einband
€ 249,–
ISBN 978-3-17-039966-2