In welchen Gebieten der neuroÂlogischen Forschung gab es in den letzten Jahren die weitÂreichendsten, spannendsten EntÂwicklungen? Welche von diesen sind bereits in der Praxis angeÂlangt, welche in der näheren Zukunft zu erwarten?
Quer über alle neuroÂlogischen Erkrankungen gibt es immense Fortschritte in der EpidemioÂlogie und Genetik. Gerade die ErkenntÂnisse aus der Genetik sind wichtig, um die PathoÂphysiologie von KrankÂheiten zu verstehen und daraus neue TherapieÂansätze zu entwickeln.
Was sich momentan in der Therapie tut, sind Antisense-Oligonukleotid-Therapien und Gentherapien. Das spektakulärste Beispiel hierfür ist die Spinale MuskelÂatrophie, bei der beide TherapieÂansätze zwischenÂzeitlich etabliert sind. Bei SäugÂlingen kann eine Gentherapie ganz offenÂsichtlich das Fortschreiten der Erkrankung bremsen und Kindern eine fast normale motorische Entwicklung ermöglichen. Darüber hinaus sind intrathekale und oral verfügbare Therapien in der Lage, die Spinale MuskelÂatrophie bei Jugendlichen und Erwachsenen zu stoppen und bei ca. 40 % der Betroffenen deren Symptome zu verbessern.
Große Fortschritte gibt es bei der Behandlung des FrühÂstadiums der Alzheimer-Erkrankung. Hier haben zwei monoklonale Antikörper gegen Betaamyloid gezeigt, dass sie die KrankheitsÂprogression verlangÂsamen können und die Betaamyloid-Ablagerungen im Gehirn signifikant reduzieren. Die prakÂtische Umsetzung dieser Therapie erfordert allerdings immense logistische AnstrenÂgungen und wird mit extrem hohen Kosten verbunden sein.
Unter dem Fachbegriff der „Nervenheilkunde“ wurden im 20. Jahrhundert über einen langen Zeitraum noch ErkranÂkungen gefasst, die in ein breites Spektrum fielen. Im Laufe der Jahre haben sich NeuroÂlogie und Psychiatrie als jeweils eigenständige Fachgebiete immer stärker ausÂdifferenÂziert und wechselÂseitig „emanzipiert“.
Ist der Eindruck richtig, dass sich beide Disziplinen zuletzt wieder stärker aufÂeinanÂder zubewegen, und sofern ja, worin liegt dies begründet?
Ja, dieser Eindruck ist ganz sicher richtig. Begründet liegt dies darin, dass die meisten neuroÂdegenerativen Erkrankungen wie die Alzheimer-Demenz oder der Morbus Parkinson eine erhebÂliche psychiatrische KomorbiÂdität aufweisen, beispielsÂweise in Form von Psychosen, Depressionen oder den LeitÂsymptomen der Demenz. Auch NeuroÂlogen müssen in der Lage sein, solche BegleitÂerkrankungen zu behandeln – wozu sie in der Regel auch gut in der Lage sind, da sie im Rahmen ihrer FacharztÂausbildung eine psychiaÂtrische TeilÂausbilÂdung erhalten haben. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass es immer mehr BioÂmarker zur frühen Erkennung neuroÂdegenerativer Erkrankungen gibt – ein Feld, auf dem NeuroÂlogen engagiert sind.
Wie steht es aktuell um die Aus-, Fort- und Weiterbildung junger Neurologinnen und Neurologen im stationären und ambulanten Bereich?
Wir haben die erfreuÂliche Entwicklung, dass die NeuroÂlogie das am schnellsten wachsende Fach aller FacharztÂdisziplinen ist und wir haben eine sehr große Zahl von jungen Neurologinnen und Neurologen, die speziell in der Deutschen GesellÂschaft für Neurologie (DGN) vertreten sind, u.a. mit einer eigenen UnterÂgruppierung „Junge Neurologen“, die auch in allen Gremien der FachÂgesellÂschaft repräsentiert ist. Ãœberhaupt lässt sich feststellen, dass die DGN sehr großen Wert darauf legt, dass die jungen Kolleginnen und Kollegen sehr gut ausÂgebilÂdet werden, und das funktioniert hervorÂragend. Die DGN hat derzeit (Oktober 2023) über 12.000 Mitglieder.
Welche Schäden kann SARS-CoV-2 im Gehirn anrichten und was ist über die Folgen bekannt? Gibt es therapeutische Ansätze?
Es gibt ein interessantes Phänomen: In der ZwischenÂzeit gibt es rein zahlenmäßig genauso viele PubliÂkationen allein über Covid wie über den gesamten Rest der Medizin. Tatsächlich gibt es vielfältige neuroÂlogische ManiÂfestationen, die inzwischen gut beschrieben sind, wie SchlagÂanfälle, Guillain-Barré-Syndrom, PolyÂneurotiden, EnzeÂphaloÂmyelitiden, Fazialisparesen und andere HirnÂnervenausfälle, die zum Glück sehr selten sind. Daneben gibt es die LangzeitÂfolgen, eben Long Covid, bei denen wissenÂschaftlich heftig darüber gestritten wird, ob es sich dabei um Manifestationen funktioneller Natur oder aber wie bei anderen chroniÂschen MüdigkeitsÂsyndromen um eine FehlÂfunktion handelt, die durch Freisetzung von InterÂleukinen während der Erkrankung selbst ausgelöst wurde. Das zweite wichtige Thema für die NeuroÂlogie sind die potenziellen Folgen von Impfungen.
Welchen spezifischen Beitrag kann das Werk „Verlauf und Therapie neurologischer Erkrankungen“ für die Qualitätssicherung ärztlicher Praxis leisten?
Seit Erscheinen der letzten Auflage (2017) hat es viele randomÂisierte und kontrolÂlierte Studien gegeben, zum Teil Placebo-kontrolliert, zum Teil VergleichsÂstudien zwischen verschiedenen Therapien, so dass der EvidenzÂgrad der Empfehlungen, die gegeben werden, deutlich zugenommen hat. Gegenüber den TherapieÂleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat die Neuauflage des „TherapieÂbuches“ das Privileg, nicht nur auf die Therapie, sondern ausÂführlich auf den natürlichen Verlauf und die PathoÂphysiologie eingehen zu können.
Ein ganz wesentÂlicher Vorteil für die neuroÂlogische Praxis besteht darin, dass dabei tatsächlich evidenzÂbasierte und in ihrer Relevanz abgestufte TherapieÂempfehlungen gegeben werden. Insofern stellt das „TherapieÂbuch“ für alle neuroÂlogisch tätigen Kolleginnen und Kollegen eine sehr wertÂvolle Ergänzung der Leitlinien der DGN und damit eine wichtige Hilfe in ihrem klinischen Alltag dar.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Mühe!
Diener/Gerloff/Dieterich/Endres (Hrsg.)
Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen
8., erw. und überarb. Auflage 2023
1.550 Seiten. Fester Einband
€ 249,–
ISBN 978-3-17-039966-2