An deutschen Hochschulen widmen sich immer mehr Fachbereiche der Erforschung von Sexualität. Wir sprechen darüber mit Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg.
Heinz-Jürgen Voß
Einführung in die Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung
Basisbuch für Studium und Weiterbildung
2022. 237 Seiten, 12 Abb., 6 Tab. Kartoniert. € 36,–
ISBN 978-3-17-034717-5
Reihe: Urban-Taschenbücher
Sexualität schien lange Zeit eine Fachdomäne der Medizin und Biologie zu sein. Heute wird Sexualität an immer mehr Hochschulen fachübergreifend zum Thema. Gibt es hier einen eindeutigen Trend?
Der einzige kostenfreie Studiengang in Sexualwissenschaft ist der an unserer Hochschule, vor kurzem sind kostenpflichtige Studiengänge in Berlin und Hamburg dazugekommen. Momentan besteht seitens verschiedener Institutionen das Interesse, dass wir uns hinsichtlich Sexualität professionalisieren, weil jetzt die sexualisierte Gewalt thematisiert wird, die über Jahrzehnte an Schulen und Internaten stattgefunden hat. Überall, wo Menschen mit Menschen zu tun haben, spielen Fragen von Körper, Geschlecht und Sexualität eine Rolle, und bislang haben wir uns den Luxus geleistet, dass die Leute dafür nicht ausgebildet sind. Das muss sich ändern.
Kennzeichen dieser wissenschaftlichen „Neuentdeckung“ der Sexualität sind inter- und transdisziplinäre Zugänge. Was heißt das konkret?
Das Interesse an Sexualität nimmt über verschiedene Disziplinen hinweg zu: Im Bereich Soziale Arbeit wird etwa erforscht, wie Sexualität in der Familienbegleitung besprochen werden kann, in den Altertums- und Geschichtswissenschaften, warum sich unsere Begriffe von Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit nicht auf die Antike oder das Mittelalter übertragen lassen. Und auch in der Erziehungswissenschaft, der Soziologie sowie der Philosophie gibt es interessante Forschungsbewegungen in Richtung Sexualität.
Gibt es hier Themen, die fachübergreifend im Mittelpunkt stehen?
Ich nehme wahr, dass zunächst die Themen Vielfalt und Antidiskriminierung an Zuspruch gewinnen, auch unter Studierenden. Das ist gut und wichtig – aber Sexualität fällt da weiterhin leicht hinten runter. Vermutlich liegt das daran, dass sie immer noch tabuisiert ist, aber auch daran, dass wir sie oft als etwas Privates, Persönliches sehen oder selbst Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben.
Ist die Forschung zur Sexualität auch gesellschaftlich relevant?
Im universitären Umfeld wird meine Disziplin als recht produktiv wahrgenommen, im weiteren gesellschaftlichen Kontext müssen wir uns ein Stück weit behaupten. Das liegt an Veränderungen hin zu Toleranz und Akzeptanz. Wenn jemand heute fünfzig ist, hat er in der Schule noch gelernt, dass Homosexualität krankhaft und strafbar ist; Debatten zu Trans- und Intergeschlechtlichkeit oder Nonbinarität führen wir gesellschaftlich erst seit 2010.
Dr. Heinz-Jürgen Voß hat die Professur für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung am Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur der Hochschule Merseburg inne.
Bleiben Sie auf dem Laufenden –
Abonnieren Sie den Kohlhammer Newsletter