Interview mit Mareen Machner, Ronja Behrend und Rolf Dubb

Mareen Machner, Dipl. Wirtsch.-Päd., M. Sc., Leitung Lernzentrum der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Kursleitung Notfallpflege, Anästhesie- und Intensivpflege im Bereich Fort- und Weiterbildung des Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe.

Dr. rer. medic. Ronja Behrend, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Charité-Universitätsmedizin im Dieter Scheffner Fachzentrum für medizinische Hochschullehre und evidenzbasierte Ausbildungsforschung. Aktueller Arbeitsschwerpunkt: Weiterentwicklung interprofessioneller Ausbildung für die Gesundheitsberufe.

Rolf Dubb B. Sc., M. A. Fachkrankenpfleger A+I, Intensive Care Practitioner und Fachbereichsleiter an der Akademie der Kreiskliniken Reutlingen GmbH.

Umschlagabbildung des BuchesNeu!

Machner/Behrend/Kaltwasser/Dubb
Praxiseinsatz in Notaufnahme, Intensivstation und Anästhesie

Nachweis von Praxisaufträgen für Studium, Aus-, Fort- und Weiterbildung

2021. 128 Seiten. Kart. € 24,–
ISBN 978-3-17-039582-4

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Die Arbeitsabläufe in einer Notaufnahme sind gekennzeichnet durch komplexe Versorgungssituation sowie ein hohes PatientInnenaufkommen. Wie werden die Behandlungsabläufe im Sinne der PatientInnensicherheit strukturiert?

Mareen Machner
Mareen Machner

Machner: 2015 wurde in einem Gutachten für die deutsche Notfallversorgung u. a. von R. Riessen und vielen weiteren VertreterInnen aus Fachgesellschaften und anderen Institutionen auf die Herausforderungen, denen Notaufnahmen gegenüberstehen, hingewiesen. Unter verschiedenen Forderungen wurde besonders die Rolle der Daseinsfürsorge gegenüber der Bevölkerung kritisch hinterfragt. 2018 verabschiedete der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den Stufenplan zur Notfallversorgung, der die grundlegenden Elemente aus dem Positionspapier u. a. aufgegriffen hat. Ein wesentlicher Aspekt ist die Prozesstruktur in den Notaufnahmen. Ab 2023 muss jede Notaufnahme im Sinne der PatientInnensicherheit mit validierten Ersteinschätzungssystemen wie ESI oder Manchester Triage System (MTS) arbeiten, um die Behandlungsabläufe nach Behandlungsdringlichkeiten zeitnah innerhalb von zehn Minuten zu strukturieren. Des weiteren fordert der G-BA, dass jede Notaufnahme über qualifiziertes weitergebildetes ärztliches und pflegerisches Personal verfügen muss, sofern die Ausbildungsstrukturen in den jeweiligen Bundesländern vorhanden sind.

In der Notaufnahme arbeitet man in multiprofessionellen Teams zusammen. Aus welchen Professionen bestehen diese Teams?

Machner: Speziell die Notaufnahmen bildet die sogenannte Schnittstelle bzw. Nahtstelle zu allen Professionen. Neben einem Grade Mix stellt der Skill Mix für Notaufnahmen eine besondere Herausforderung dar, welche es vergleichend in keinem anderen Klinikbereich gibt. Neben Pflegenden arbeiten NotfallsanitäterInnen, MFA’s, Studierende, Ärzt*innen aus allen Fachrichtungen in Ad- hoc-Situationen zusammen. Alle Berufsgruppen werden derzeit in unterschiedlichen Ausbildungssystemen qualifiziert und sprechen eine „unterschiedliche Sprache“. Dies zeigt sich in der Praxis als größte Herausforderung. Deshalb ist das entwickelte Praxishandbuch für diese Berufsgruppen wichtig, um ein gegenseitiges Rollenverständnis und den Mut zu entwickeln, Sachen zu hinterfragen.

Rolf Dubb
Rolf Dubb

Dubb: Interprofessionalität ist eine tragende Säule der Arbeit in Notaufnahmen. Jedes Teammitglied bringt seine Kernkompetenzen an den entscheidenden Stellen ein. So kann die MFA im Kontext von Aufnahme und Administration tätig weden und Notfallsanitäter*innen im Rahmen von Transportbegleitungen und der Erstversorgung.

In der Notaufnahme arbeitet man immer unter Hochspannung. Hat sich dies im Rahmen der COVID-19-Pandemie noch einmal gesteigert?

Machner: Deutschlandweit kam es während der Coronazeit zu einem Abfall der hohen Patientenfallzahlen, weil viele PatientInnen „Angst“ hatten die Kapazitäten der Notaufnahmen unnötig zu beanspruchen. An der Charité, aber auch bundesweit, beobachteten wir eher einen Anstieg von „echten Notfällen“. Trotz gesunkener Patientenfallzahlen ist die Behandlungskomplexität sowie die pflegerischen Anforderungen von Covid- Patient*innen deutlich für das pflegerische sowie ärztliche Personal gestiegen.

Dubb: Hinzu kommt natürlich, dass die Trennschärfe zu einer COVID-19-Infektion nicht immer gegeben war und im Grunde alle PatientInnen als potentiell infektiös eingestuft werden mussten. Das erforderte logistisch angepasste innerklinische Abläufe und klare Kommunikationsstrukturen mit dem Rettungsdienst und den HausärztInnnen.

Mit dem neuen Werk „Praxiseinsatz in Notaufnahme, Intensivstation und Anästhesie“ sollen Auszubildende, Studierende und Weiterbildende Ihren Praxiseinsatz in der Notaufnahme dokumentieren können. Wie genau kann Ihr Buch die Lernenden unterstützen?

Dr. rer. medic. Ronja Behrend
Dr. rer. medic. Ronja Behrend

Behrend: Das Buch beschreibt ganz konkrete Behandlungsanlässe, die in der Notaufnahme oder auch in der Anästhesie und Intensivstationen üblich sind. Die Lernenden bekommen einen Überblick, aus welchen Gründen und mit welchen Leitsymptomen PatientInnen vorstellig werden. Ganz im Sinne der Notaufnahmen – vom Symptom zur Diagnose. Es bietet eine Unterstützung, sich strukturiert mit einem Behandlungsanlass nach dem anderen zu beschäftigen. Somit unterstützt dieses Praxishandbuch die Qualität in der praktischen Ausbildung.

Immer wieder wird über interprofessionelle Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung gesprochen und auch dieses Buch richtet sich an mehrere Berufsgruppen. Wie schätzen Sie die Bedeutung der interprofessionellen Zusammenarbeit in der Notaufnahme ein?

Behrend: Die Notaufnahme ist ein besonders spannender Ort, wenn es um die Zusammenarbeit verschiedener Professionen geht. Hier wird oft zeitkritisch und in Ad-hoc-Teams gearbeitet. Da ist strukturierte und sichere Kommunikation, hohe Fachkompetenz, aber auch Vertrauen zueinander und in die Fähigkeiten der verschiedenen Berufsgruppen ganz entscheidend für eine möglichst optimale Versorgung der kritisch erkrankten oder verletzten PatientInnen. Aber natürlich ist eine gelungene Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen in vielen Versorgungsbereichen von Bedeutung, z. B. bei chronischen Erkrankungen. Wichtig ist mir, dass Lernende den Wert einer guten Zusammenarbeit für sich selbst und die PatientInnen erkennen.

Wie genau kann man sich einen Praxiseinsatz im Rahmen einer Ausbildung in der Notaufnahme vorstellen? Gibt es hier Zeit für lange Erklärungen oder müssen die PraktikantInnen schnell voll einsatzfähig sein?

Dubb: Der Praxiseinsatz dient der Vertiefung des theoretisch erworbenen Wissens unter Supervision erfahrener KollegInnen. Hier sollen Routinen gefestigt und strukturierte Abläufe verinnerlicht werden. Regelmäßige Praxisbegleitungen durch Lehrende der Aus- und Weiterbildungsstätten sichern die hohe Qualität der Weiterbildung.

Für die Arbeit im klinischen Umfeld werden viele praktische Fertigkeiten gebraucht. Frau Machner, Frau Behrend, bei Ihnen an der Charité findet normalerweise auch praktischer und zum Teil interprofessioneller Unterricht statt. Welche Erfahrungen haben Sie zu Corona-Zeiten gemacht? Wie musste die Lehre in Berufen, die sehr auf Praxisanteile angewiesen ist, umgestaltet werden?

Machner: Die Corona-Krise hat uns – genauso wie alle anderen Aus- und Weiterbildungsorte in Deutschland – gezwungen innerhalb weniger Tage den Präsenzunterricht einzustellen und auf Online-Lehrformate umzustellen. Hier war von den Aus- und Weiterbildungsinstitutionen sowie den studentischen TutorInnen viel Einsatz und Kreativität gefragt, um die Lehre auf digitale Lernformate umzustellen. In machen Fällen konnten praktische Fertigkeiten in Kleingruppen unter vorgegeben Hygienebestimmungen mittels simulations- sowie Skillbasierter Lehre vermittelt werden. Weitere Unterrichtseinheiten wie Unterricht am Krankenbett (UAK) konnten die Studierenden nach negativen Testungen weiter durchführen. Speziell für die Weiterbildungen kommt erschwerend hinzu, dass die Kliniken keine externen PraktikantInnen angenommen haben und somit die Pflichteinsätze nicht geleistet werden konnten. Dieser Zustand hält auch in der dritten Welle an sowie der Aspekt, dass es keine Möglichkeiten gibt, in naher Zukunft wieder in Präsenz zu unterrichten. Entsprechend wurden in Berlin durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales Sonderregelungen getroffen, dennoch stehen die WeiterbildungsteilnehmerInnen sowie Studierenden mit Ihren Ängsten für die prospektive Planungen insbesondere kommender Prüfungen alleine da. Für Sie gibt es kaum Möglichkeiten, in Präsenz an Modellen für bestimmte Prüfungsformate zu lernen.

Ein weiteres generelles Problem stellt die Nutzung und Etablierung von digitalen Medien sowie deren Software dar, welche Aufgrund von nicht geklärten Datenschutzverordnungen immer wieder angepasst werden müssen.

Behrend: Die interprofessionelle Lehre lebt vom Austausch von-, mit- und übereinder. Das war natürlich schwierig und ist in den ersten Wochen – wie die gesamte Präsenzlehre – weggefallen. Im Wintersemester erproben wir nun interprofessionelle Online-Lehre. Das kann zwar keinen vollständigen Ersatz darstellen, aber einige Aspekte – wie das übereinader Lernen und den Austausch miteinander – sind auch digital möglich, wenn die Lehre entsprechend geplant und vorbereitet wird.

Wie genau ist die Weiterbildung bei Ihnen jeweils gestaltet? Gibt es bundeseinheitliche Vorgaben zur Weiterbildung in einer Notaufnahme?

Machner: Die Weiterbildungslandschaft in Deutschland unterliegt förderalen Strukturen. Somit werden die rechtichen Grundlagen an den Vorgaben des Landesrechtes, der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) oder mit den aktuellen Vorgaben an den sich entwickelnden Pflegekammern ausgerichtet. Speziell für die Notfallpflege beziehen sich 16 Bundesländer auf die Empfehlungen der DKG vom 01.01.2017. Berlin verfügt bereits seit 2016 über eine landesrechtliche Verordnung die wegweisend aufgegriffen wurde. Durch die gesetzliche Verordnung wurde ein Meilenstein für die Ausbildungsqualität in der Notaufnahmen in Deutschland gelegt. 70 % (vgl. DKG- Gutachten 2015) und mehr PatientInnen haben Ihren ersten Kontakt in einem Krankenhaus. Dies sind PatientInnen aller Altersgruppen, mit komplexen Behandlungsanlässen sowie Opfer von häuslicher Gewalt. Demgenüber stand bis 2016 ein Ausbildungssystem in Deutschland, welches in der Grundausbildung auf das Leitsymptomorientierte Handeln nicht vorbereitet und bis dato keine Fachweiterbildung vorsah. Die prospektiven Zahlen und die medialen Diskussionen über die Notaufnahmen zeigen auf, welchen Stellenwert diese Weiterbildungung hat.

Dubb: In Baden-Württemberg findet die Weiterbildung zur Zeit noch nach dem Curriculum der DKG statt, wird aber in absehbarer Zeit staatlich bzw. von der Pflegekammer übernommen werden. Die verbindenden Klammern sind die Vorgaben der DKG, sodass AbsolventInnen der Fachweiterbildung Notfallpflege überall in Deutschland arbeiten können.

Schon vor der COVID-19-Pandemie waren die Notaufnahmen stark überlastet. Personalmangel und steigende Patientenzahlen trafen aufeinander. Nicht selten kam es zu kritischen Situationen bis hin zu Gewaltausbrüchen. Ist das ein Phänomen, das auch Sie beobachten konnten?

Machner: In dem Zeitraum von März bis Mai 2020 gab es kaum Behandlungsanlässe in den Notaufnahmen und somit zeigte sich eine deutliche Entspannung in den Notaufnahmen. Bundesweit ist der Bereich Notaufnahme als Aufgabenfeld und mit den Qualifizierungsmöglichkeiten sehr beliebt.

Nichtsdestotrotz führen lange Wartezeiten oder interkulturelle Missverständnisse zu prospektiven Konfliktsituationen in den Notaufnahmen. Ein wesentlicher Aspekt, der sich in den letzten Jahren verändert hat, ist die Einführung von validierten Ersteinschätzungsinstrumenten in den Notaufnahmen, welche auch im G-BA-Beschluss (2018) zur gestuften Notfallversorgung, gesetzlich verankert wurden. Kliniken arbeiten nach Behandlungsprioritäten, d. h. nach objektiven Indikatoren und nicht mehr nach dem Hausarztprinzip „wer zuerst kommt, wird zuerst behandelt“. Des Weiteren können die immensen Patientenfallzahlen, das sogenannte „Overcrouding“, zu extremen Wartezeiten führen.

An der Charité, aber auch an der Mehrzahl bundesdeutscher Notaufnahmen, werden für die MitarbeiterInnen verpflichtende Deeskalationsschulungen und Supervisionen angeboten. Dennoch nimmt das Problem einen erheblichlichen Stellenwert in der öffentlichen Perspektive ein. Speziell Notaufnahmen verfügen streckenweise noch über keinen Wachschutz. Bedingt durch die „offenen Türen“ ist es für das dort arbeitende Personal schwer, einen Überblick zu behalten, wer sich wo mit welchen Absichten befindet.

Wir danken Frau Machner, Frau Behrend und Herrn Dubb vielmals für das Interview.

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