Sabine Weißflog bei einem Kakao mit Christoph Müller

Mit dem Buch „Verstehen in der psychiatrischen Pflege“ setzen Sabine Weißflog und Julia Lademann mitsamt engagierten MitautorInnen einen Meilenstein. Sie stoßen an, um pflegewissenschaftliche Überlegungen für die pflegerische Praxis fruchtbar zu machen. Sabine Weißflog, Professorin für Pflegewissenschaft an der Frankfurt University for Applied Sciences, hat sich den Fragen von Christoph Müller gestellt.

Umschlagabbildung des BuchesNeu!

Sabine Weißflog/Julia Lademann (Hrsg.)
Verstehen in der psychiatrischen Pflege
Beiträge für erweiterte pflegewissenschaftliche Perspektiven

2021. 156 Seiten, 8 Abb. Kart. € 39,–
ISBN 978-3-17-039688-3

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Christoph Müller: Auf den ersten Blick entbehrt es doch einer gewissen Paradoxie. Das von Ihnen mitherausgegebene Buch „Verstehen in der psychiatrischen Pflege“ spricht etwas an, das in der Praxis als Selbstverständlichkeit gesehen werden müsste. Wie lösen Sie diese Paradoxie auf, liebe Frau Weißflog?

Sabine Weißflog
Sabine Weißflog

Sabine Weißflog Der Betroffenenbewegung ist es ein wichtiges Anliegen, dass Pflegefachpersonen die subjektive Sichtweise der psychisch erkrankten Menschen einnehmen – „verhandeln statt behandeln“, um zu einem gemeinsamen Verstehen der subjektiven Wirklichkeiten gelangen zu können. Das Wesen der psychiatrischen Pflege ist das Verstehen der subjektiven Wirklichkeit psychisch erkrankter Menschen, das Erkennen der Motivation für Veränderung, die Unterstützung der Menschen bei der Neudefinition des Sinns von Identität, die Unterstützung bei der Bewältigung von Auswirkungen der Erkrankung und Veränderung sowie das Handeln, um den Genesungsweg mit Interventionen begleiten zu können. Weil wir uns als Menschen mit Mitmenschen verständigen können und eine kommunikative Umwelt bilden gehen wir per se davon aus, dass die Grundstruktur der Wirklichkeit/Lebenswelt eine gemeinsame ist, um mit Alfred Schütz zu sprechen. Um die Wirklichkeit und damit die Einzigartigkeit der Mitmenschen verstehen zu können, bedarf es spezifische Situationen. Überwiegend erfassen wir die Mitmenschen durch Typisierungen. Auch wenn sich Pflegefachpersonen und erkrankte Menschen eine Umwelt teilen, stellt diese Gemeinsamkeit noch keine geteilte Wirklichkeit dar. Nach Schütz muss ich die Mitmenschen erfahren. Die Voraussetzung, um den anderen erfahren zu können, ist die gegenseitige Zuwendung und Aufmerksamkeit, also das bewusste teilnehmen am Leben des anderen. Dafür müssen wir psychiatrisch-pflegerische Phänomene in ihrem subjektiven Charakter verstehen. Denn die Sinnhaftigkeit der Handlungen psychisch erkrankter Menschen verbirgt sich dem äußerlichen Zugriff. Aus Sicht der Pflegewissenschaft halte ich die Weiterentwicklung jener theoretischen Ansätze für notwendig, die die psychiatrische Pflege unterstützen, damit sie methodologisch fundiert ihrem Wesen entsprechen können. Reflektiere ich das professionelle pflegerische Selbstverständnis der psychiatrischen Pflege, um wissenschaftlich zu verstehen, sollte ich Analysen des Fremdverstehens heranziehen.

Christoph Müller Wenn Sie persönlich, Frau Weißflog, die Subjektivierung der psychiatrischen Pflege ans Herz legen, mahnen Sie irgendwie ein verändertes persönliches Engagement an. Ist dies auch mit einem Perspektivenwechsel verbunden, bei dem sich psychiatrisch Pflegende auch vom medizinisch-biologischen Paradigma verabschieden sollen?

Sabine Weißflog Spätestens seit den kritischen Diskursen gesellschaftlicher Verhältnisse in den Werken von Michel Foucault wissen wir, dass die diskursiv entstandene Wahrheit festhält, wie etwas zu wissen ist und nicht, wie die Dinge sind. Das sehen wir sehr gut daran, dass Pflegefachpersonen aus dem Feld der psychiatrischen Versorgung in einem sehr breit angelegten Aufgaben- und Tätigkeitsbereich arbeiten, aber im gesellschaftlichen Diskurs in erster Linie auf die Themenfelder Aggressions- und Gewaltereignisse sowie Zwangsmaßnahmen reduziert werden. Die diskursiven Praktiken, also Aussagen, die zu Logiken führten, beeinflussten die psychiatrische Pflege insofern, dass sie sich mit der zugeschriebenen Rolle identifizierte. Im Aufgabenbereich der medizinischen Assistenz überwachen sie Zwangsmaßnahmen. Auf ihre Informationen stützen sich Ärztinnen und Ärzte, um die Maßnahmen auszulösen oder zu beenden. Für diese Tätigkeiten psychiatrischer Pflege sehe ich das medizinisch-biologisches Wissen als absolut notwendig. Die Subjektivierung der psychiatrischen Pflege sehen wir an der Selbstwahrnehmung, am Denken und Handeln. Gleichzeitig erfahre ich über Gespräche mit Pflegefachpersonen sehr viel Empathie und Fürsorge den psychisch erkrankten Menschen gegenüber. Sie möchten den Genesungsweg mit „guter psychiatrischer Pflege“ begleiten. Während des Studiums lernen sie auch den „Recovery-Ansatz“ kennen und sehr oft erhalte ich die Rückmeldung, dass dieser Ansatz ausdrückt, was sie unter guter psychiatrischer Pflege verstehen. Sie fühlen sich verstanden und können nun ihre Pflegephilosophie auch theoretisch begründen. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir innerhalb der Berufsgruppe psychiatrische Pflege von einem impliziten verstehenden Paradigma sprechen können, welches ich als Grundlage psychiatrischer Pflege, auch im Rahmen der Vorbehaltsaufgabe Pflegeprozess, als notwendig erachte. Um dieses Paradigma zu explizieren, braucht es theoretische Grundlagen – wie zu den Phänomenen des Verstehens. Denn sich selbst zu verstehen, heißt noch nicht, dass ich Mitmenschen verstehen kann. Sprechen ich von der Emanzipation der psychiatrischen Pflege, die aus meiner gegenwärtigen Sicht aufgrund des Berufsbildes, festgeschrieben im Pflegeberufegesetz, nur eine lokale Emanzipation sein kann, halte ich diesen Weg für möglich. Meine Frage ist nun: Welche theoretische Grundlage ermöglicht die Entidentifizierung bzw. Ent-Subjektivierung der psychiatrischen Pflege als lokale Emanzipation? Lassen Sie mich deshalb auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückkommen. Aufgrund der Subjektivierung bilden nicht die Individuen die gesellschaftliche Grundlage, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse. Folglich, das beschreibe ich in meinem Aufsatz, können wir die Transformation des Subjekts nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen behandeln. Auch wenn existierende gesellschaftliche Praktiken Veränderungen bedürfen würden, stellen sich gesellschaftliche Verhältnisse so dar, dass uns Kritik nicht möglich erscheint. Wir leben in einer empirischen Epoche – des Positivismus, der Objektivität und der Rationalisierung, die sich durch Vernunft auszeichnet.

Christoph Müller In dem Buch kommt der Pflegeprozess zur Sprache, während gleichzeitig über die Interdisziplinarität nachgedacht wird. Inwieweit stützt aus Ihrer Sicht der Pflegeprozess das Verstehen der Pflegenden gegenüber den zu pflegenden Menschen? Macht es nicht Sinn, wenn die Subjektivierung den Weg zu den Menschen vereinfachen will, auch den multidisziplinären Behandlungsprozess zu präferieren?

Sabine Weißflog Wie ich in meinem Aufsatz geschrieben habe, unterliegt der Pflegeprozess einem kybernetischen Regelkreis, sein Ursprung ist auf die Systemtheorie und Kybernetik zurückzuführen. Dem 6-Phasen-Modell schloss sich die Weltgesundheitsorganisation an. Da dem Pflegeprozess kein konzeptioneller Rahmen unterliegt, wird er je nach Denkschule und pflegetheoretischem Ansatz als normiertes, bedürfnisorientiertes oder standardisiertes Verfahren umgesetzt und gegenstandsbezogen an objektivierbaren Pflegeproblemen geführt. Im neuen Pflegeberufegesetz ist er als Vorbehaltsaufgabe festgeschrieben. Damit liegen seit Januar 2020 die Aufgabenfelder Gestaltung des Pflegeprozesses und Sicherstellung der Pflegequalität im Verantwortungsbereich der Pflegefachpersonen. Per Gesetz wurden Pflegefachpersonen zu eigenverantwortlichen Akteuren im interdisziplinären Team und die Pflegeziele und Interventionen sind Teil des multidisziplinären Behandlungsprozesses. Nun bildet der Pflegeprozess als Konstrukt einen gedanklichen Vorgang ab, der nicht den Anspruch erhebt, gleichzeitig einen theoriegestützten Interaktionsprozess zu definieren. Um den Genesungsweg psychisch erkrankter Menschen begleitend unterstützen zu können, benötigen Pflegefachpersonen im Feld der psychiatrischen Versorgung Kompetenzen in lebensweltorientierter interaktiver Kommunikation.

Christoph Müller Mit der Betonung der Recovery unterstreichen Sie den Weg zu einem ganz individuellen Suchen und Finden eines Genesungswegs für einen seelisch erkrankten Menschen. Wie kann denn Recovery wirklich praktisch werden?

Sabine Weißflog Menschen erleben den Alltag als gegeben. Sie möchten durch ihr Wirken Veränderungen am Auferlegten herbeiführen. Sie erfahren und verstehen in einer gemeinsam geteilten räumlichen Lebenswelt, wie im Rahmen der Pflegebeziehung, über die Wir-Beziehung in der Unmittelbarkeit. Auch im Rahmen einer Beziehung vertrauen die Menschen bei jeglichem Handeln und Tun auf das eigene Bewältigungsvermögen. Die psychische Krise erschüttert die Sinnstruktur und das Vertrauen, weil sie mit einer erfahrbaren Diskrepanz zwischen dem Erfahrungsvorrat und der aktuellen Erfahrung einhergeht. Die Motivation für Veränderungen liegt im Auflösen der Diskrepanz, wonach das Handeln im Handlungsentwurf seinen Sinn findet. Dem Recovery-Ansatz folgend kann Gesundung/Genesung nur dann gelingen, wenn die Menschen, ihre Familien und Freunde und u. a. auch die Pflegefachpersonen an der Hoffnung festhalten. Ein hoffnungsvolles und erfülltes Leben trotz bestehender Einschränkungen aufgrund der Erkrankung führen zu können, bedeutet für psychisch erkrankte Menschen einen persönlichen und einzigartigen Veränderungsprozess der freien Persönlichkeitsentfaltung. Übertragen wir diesen Gedanken auf die Pflegebeziehung und ich spreche in diesem Zusammenhang bewusst in Bildern, können Pflegefachpersonen und erkrankte Menschen auf eine Expedition in unerschlossene Regionen reisen und die Lebenswelten gegenseitig besuchen. Auch wenn die Lebenswelten Unterschiedlichkeiten aufweisen, stehen sie sich dennoch gleichwertig gegenüber. Vor dem Hintergrund der Gleichwertigkeit ist es möglich, die Unterschiedlichkeiten im Erleben zu verstehen und anzuerkennen. Gleichzeitig erlebt das Expeditionsteam Gemeinsamkeiten zu den Grundfragen des Menschen. Das gegenseitige Lernen ermöglicht Neuinterpretationen und veranlasst zu weitergehender Entdeckung. Die Grundvoraussetzung für die Pflegefachpersonen, in ihrer Funktion der Expeditionsleitung, ist wissenschaftlich fundiertes Hintergrundwissen.

Christoph Müller Verstehen bedeutet, Sachverhalte oder Geschehen wahrhaftig zu durchdringen. Wie kann sich eine solche Tiefgründigkeit in der Beziehung zwischen Pflegenden und zu pflegenden Menschen zeigen?

Sabine Weißflog Gerne schließe ich an meine bisherigen Aussagen an und möchte folgend ergänzen. Nach Schütz erfahren die Menschen ihre Welt durch das Handeln. Die Alltagswelt ist Teil der Lebenswelt, in der die Menschen Erleben, Gestalten und vergangene Erlebnisse reflektieren. Das Verstehen sowie die Sinnkonstitutions- und Sinndeutungs-Prozesse werden im subjektiven Bewusstsein strukturiert. Das Wissen um die sinnhafte Vorstrukturiertheit der Sozialwelt hat Konsequenzen für die psychiatrische Pflegepraxis und insbesondere für die Beziehungsarbeit. Orientiert am Alltagshandeln und der individuellen Wirklichkeit des einzelnen Menschen kann die Pflegebeziehung als soziale Zeitbeziehung im Sinnzusammenhang angelegt werden, weil sie über die Handlung vorentworfen ist. Folge ich der Theorie kann alleine in der Wir-Pflegebeziehung am bewussten Leben des anderen teilgenommen werden. In gemeinsamen Gesprächen werden die objektiven Bedeutungen der Worte des anderen ausgelegt, die Angemessenheit der in die Interaktion eingebrachten Deutungsschemata direkt überprüft und sich gemeinsamer Sichtweisen versichert.

Christoph Müller Ganz herzlichen Dank …

Das Interview führte Christoph Müller, der uns dieses freundlicherweise zur Verfügung stellte. Das Interview wurde zuerst auf der Website www.pflege-professionell.at veröffentlicht.

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