Anlässlich des Erscheinens des Bandes Die komplexe Republik von Professor Dr. Marcus Höreth führten wir mit dem Autor das folgende schriftliche Interview:
Das Wort Staatsorganisation klingt wenig spannend. Warum ist die Funktionsweise des Staates für Politikwissenschaftler und Juristen so wichtig?
Für Staatsrechtler war der Staat schon immer wichtig, sogar so wichtig, dass er zu Zeiten der Weimarer Republik und in der Frühphase der Bundesrepublik geradezu mystifiziert worden ist. Jedenfalls war der Staat im juristischen Denken etwas, das irgendwie unabhängig vom sozialen, wirtschaftlichen und politischen Geschehen existierte und auch existieren sollte. Alles was den Staat als politische Einheit scheinbar gefährdete, z.B. die Parteien und der Interessengruppenpluralismus, wurde lange misstrauisch beäugt und abgelehnt. Es ist deshalb sicher nicht übertrieben zu behaupten, dass im juristischen Denken lange Zeit eine gewisse „Staatsversessenheit“ herrschte. Im Gegenzug hat die junge Politikwissenschaft der Bundesrepublik, die sich in erster Linie als Demokratiewissenschaft verstand, den Staat gründlich entmystifiziert und relativiert. Ihr Hauptaugenmerk lag und liegt noch immer auf dem politischen System sowie den politischen Parteien und Interessengruppen, die auf Basis eines legitimen Pluralismus im parlamentarischen Regierungssystem miteinander im demokratischen Wettbewerb stehen und schließlich die politische Willensbildung von unten nach oben zu organisieren haben. Dem Staat und seiner Verfassung wurde in diesem Zusammenhang lange Zeit aber kaum mehr eine eigenständige Bedeutung zuerkannt. Kritisch betrachtet, kann man der Politikwissenschaft insofern eine gewisse „Staatsvergessenheit“ attestieren. Ich bewege mich mit meinem Buch gewissermaßen in der Mitte zwischen diesen beiden Polen, indem ich untersuche, wie die Staatsorganisation in Deutschland auf politische Entscheidungsprozesse und politischen Wettbewerb und schließlich auf die Inhalte der Politik Einfluss nimmt.
Sie legen überzeugend dar, wie unterschiedlich die im Grundgesetz festgelegten Prinzipien der Staatsorganisationen sind. Welche aber sind die wichtigsten?
Spontan würde ich sofort sagen: das Demokratieprinzip. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, wie es so schön in Art. 20 Abs. 2 GG heißt! Aber die isolierte Betrachtung der Staatsfundamentalnormen führt ja nur begrenzt weiter, weil z.B. die Demokratie immer auch eine rechtstaatliche Grundierung benötigt, um anerkennungswürdig zu sein. Und durch das sozialstaatliche und föderale Prinzip wird die Demokratie in Deutschland noch weiter modifiziert. Grundsätzlich denke ich also, dass erst das Zusammenwirken aller Staatsorganisationsprinzipien der demokratischen Politik in Deutschland ihr spezifisches Gepräge gibt. Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und Bundesstaat bedingen, ergänzen und begrenzen einander – was vor allem durch die republikanische Perspektive deutlich wird. Wie das Gesamtensemble der Staatsorganisation genau funktioniert, zeige ich anhand der sechs Rahmenordnungen der Politik, in denen jeweils immer zwei Prinzipien einander zugeordnet sind, z.B. im demokratischen Rechtsstaat, der föderalen Demokratie oder im sozialen Rechtsstaat.
Wo begegnet uns im Alltag die Staatsorganisation oder ist die Beschäftigung mit diesen Prinzipien eher akademischer Natur, die man als Politikwissenschaftler und Jurist kennen muss?
Wir bewegen uns natürlich beim Thema Staatsorganisation zunächst einmal auf einer sehr abstrakten Ebene. Doch man kann die mit der Staatsorganisation verbundenen Fragen auch herunterbrechen, bis dorthin nämlich, wo es ganz konkret wird: die Staatstätigkeit in Politik, Verwaltung und Justiz betrifft jeden von uns tagtäglich in Form von Gesetzen, Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen. Deshalb ist Staatsorganisation zwar in erster Linie ein, wie Sie sagen, „akademisches“ Thema, mit dem sich vornehmlich Juristen und Politologen beschäftigen. Aber es geht uns alle an: so ist „Staatsorganisation“ auch von erheblicher Relevanz für den politisch interessierten Bürger, wenn er z.B. verstehen will, warum radikale Reformen, die er sich möglicherweise herbeisehnt, in Deutschland kaum möglich sind. Der tiefere Grund hierfür liegt nämlich darin, dass sich die Staatsorganisationsprinzipien wechselseitig ausbalancieren und die Politik auf einen mittleren Weg zwingen. Dieser „mittlere Weg“ ist immerhin noch breit genug, um mehreren politischen Alternativen Raum zu geben – doch ein radikaler Politikwechsel scheint auf dieser Basis kaum möglich.
Eine hypothetische Frage, sähe die Bundesrepublik anders aus, wenn es die Festlegungen des Grundgesetzes nicht gäbe?
Das ist natürlich eine unmögliche Frage! Ich versuche sie dennoch zu beantworten: Ja, davon ist auszugehen. Das Grundgesetz konstituiert eine „komplexe Republik“, in der kein Staatsorganisationsprinzip in voller Reinheit verwirklich werden kann. Das ist für den einen oder anderen frustrierend. Ein Beispiel: Viele Bürgerinnen und Bürger wünschen sich eine „demokratischere“ Bundesrepublik mit weniger mächtigen Parteien, dafür mehr direkter Demokratie, am besten „Volksgesetzgebung“ in möglichst allen Bereichen. Das wäre einseitig betrachtet durchaus demokratischer als das was wir haben, denn es käme dem Ideal der „Volksherrschaft“ näher. Doch die Demokratie des Grundgesetzes ist parlamentarisch, indirekt und repräsentativ organisiert statt plebiszitär, direkt und identitär. Einschränkungen, Ergänzungen und Konkretisierungen erfährt das Demokratieprinzip des Weiteren noch durch den Rechtsstaat und den Bundesstaat. Die an sich wünschenswerte Demokratisierung stößt so schnell an ihre Grenzen, die ihr vom Grundgesetz her gesetzt sind. Ist das aber wirklich schlimm? Dass der Politik in Deutschland durch das Verfassungsrecht und seine simultan zu beachtenden Staatsfundamentalnormen gewissermaßen Fesseln auferlegt sind, hat möglicherweise auch positive Auswirkungen. Im Vergleich zu anderen Demokratien ist Politik in Deutschland nämlich immer recht moderat, denn sie muss rechtsstaatliche, sozialstaatliche und bundesstaatliche Prinzipien allesamt beachten und einhalten. Sie können sich also die Frage selbst beantworten, in welcher Demokratie wir leben würden, gäbe es das Grundgesetz mit seinen Festlegungen nicht. Vieles hängt bei der Beantwortung Ihrer Frage davon ab, ob Sie eher Pessimist oder Optimist sind…
Für wen haben Sie das Buch geschrieben und wer sollte es lesen?
Es sollen sich vor allem Studierende der Politikwissenschaft und des öffentlichen Rechts eingeladen fühlen, denn ich versuche beiden Wissenschaftsdisziplinen gerecht zu werden. Insofern ist dieses Buch Ausdruck meiner tiefen Überzeugung, dass erst die „Zusammenschau“ beider Disziplinperspektiven das wissenschaftliche Studium der demokratischen, rechtsstaatlichen, föderalen und sozialen Republik in Deutschland interessant und lohnenswert macht. Beim Schreiben habe ich mich aber um eine möglichst verständliche Sprache bemüht. Deshalb ist das Buch auch allen Bürgern zu empfehlen, die in unterschiedlichen Kontexten politische Bildung betreiben. Gerade in der heutigen Zeit, in der vor allem der Rechtspopulismus vieles fundamental in Frage stellt, wäre zu wünschen, dass möglichst viele Menschen sich wieder mit den Grundlagen unserer politischen Ordnung vertraut machen. Einfach zu durchschauen waren Staatsorganisation und Politik in Deutschland ja nie, Probleme gibt es sicher ebenfalls zuhauf, doch die „komplexe Republik“ besitzt auch ihre unbestreitbaren Vorzüge. Wer das alles ein bisschen besser verstehen will, wer sich vergewissern will, ob und warum die politische Ordnung in Deutschland Anerkennung verdient, dem sei das Buch wärmstens empfohlen.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und Zeit.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn.