Das Coronavirus hat die Welt im Großen wie im Kleinen nachhaltig verändert. Nicht zuletzt hatte die Pandemie Folgen für das globale Kräfteverhältnis der großen „Player“ – USA, EU, China und Russland – und wird auch noch weiter Folgen zeitigen. Erst allmählich wird dieser Einfluss der Pandemie auf globale Entwicklungen sichtbar. Schon jetzt stellen sich aber fundamentale Fragen: Wer verliert und wer gewinnt? Welche Faktoren werden künftig den Lauf der Dinge maßgeblich beeinflussen: Kultur, Militär, Konzerne, Technik? Simone Lück-Hildebrandt und Reinhard Hildebrandt zeigen die während der ersten Corona-Jahre angestoßenen Entwicklungen auf und formulieren darauf aufbauend mögliche Szenarien und Empfehlungen für die Zukunft.
Lesen Sie erste Eindrücke in unserem Interview.
Simone Lück-Hildebrandt/Reinhard Hildebrandt
Die globalen Machtverhältnisse
Einfluss und Folgen einer Pandemie
2022. 206 Seiten, 2 Abb. Kartoniert. € 45,–
ISBN 978-3-17-042040-3
Frau Lück-Hildebrandt, Herr Dr. Hildebrandt, es sind nun bald zweieinhalb Jahre, dass das Coronavirus die Welt in Atem hält – was sind in Ihren Augen die einschneidendsten Veränderungen auf globaler Ebene?
Zuvor waren die militärischen, ökonomischen und geopolitischen Faktoren entscheidend für die globalen Machtverhältnisse. Die Pandemie hat zutage gefördert, dass andere Faktoren von Bedeutung sind: z. B. die Verankerung des Gemeinwohls in der Gesellschaft, die soziale Absicherung der mittleren und kleine Unternehmen und der arbeitenden Bevölkerung, ein funktionierendes Gesundheitssystem mit angemessener finanzieller Entlohnung des Pflegepersonals, insgesamt höhere Investitionen in die verschiedenen sozialen Bereiche. Die Erkenntnis in Bezug auf diese notwendigen Veränderungen ist herangereift, was jedoch noch nichts über deren vollständige Umsetzung in der Praxis aussagt. Hier gibt es sicher noch erheblichen Aufholbedarf.
Verschiedene Staaten haben ja verschiedene Wege durch die Pandemie gewählt – vom weitgehenden Ignorieren bis zum radikalen Herunterfahren des öffentlichen Lebens. Wie bilanzieren Sie diese unterschiedlichen Strategien?
In den USA z. B. wurde unter Präsident Trump Corona zunächst als Grippe verharmlost. Zudem führte das fehlende öffentliche Gesundheitssystem zu Todesraten, die zu den höchsten in der Welt zählen. Trotz des unter Präsident Biden verabschiedeten Aufbauprogramms beeinträchtigen die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der USA. Demgegenüber ist nach wie vor die Null-Covid-Strategie in China insofern erfolgreich, als sie die wirtschaftliche Entwicklung zunächst zwar beeinträchtigt hat, die wirtschaftlichen Prozesse jedoch nach Abflauen der Pandemie sehr schnell wieder hochgefahren werden konnten. Auf diese Weise konnte China seine Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt weitgehend erhalten. Die mittlere Strategie der europäischen Länder hingegen erforderte starke Stützungsmaßnahmen des Staates, deren Konsequenzen für die künftige Entwicklung noch nicht ganz absehbar sind. Die Mehrzahl der Staaten des „globalen Südens“ dagegen hatte kaum die Möglichkeit, zwischen der einen oder anderen Strategie zu wählen, da sie weder die wirtschaftlichen Ressourcen noch – in der weiteren Entwicklung – die notwendigen Impfdosen hatte, um sich gegen die desaströsen Folgen der Pandemie zu schützen.
Oft war zu hören, die Pandemie habe die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit der Politik demonstriert, der Primat der Wirtschaft sei zumindest vorübergehend in den Hintergrund getreten. Wie sehen Sie die Sache? Ist der Einfluss von Wirtschaftsinteressen in der Pandemie zurückgegangen?
In der Tat ist die Fortentwicklung in Richtung auf eine „marktkonforme Demokratie“ gestoppt worden, die regulierenden Eingriffe des Staates auf den verschiedensten Feldern – von den Strategien zur Bekämpfung der Pandemie bis hin zu den finanziellen Unterstützungsmaßnahmen – haben zugenommen. Allerdings ist diese Entwicklung nicht von einer stärkeren demokratischen Partizipation der Bevölkerung begleitet – im Gegenteil: die massiven Demonstrationen der „Querdenker“ sowie derjenigen, die sich völlig von der Politik abgewandt haben und lediglich als Konsumenten agieren, zeigen, dass die demokratischen Grundlagen der Gesellschaften nicht gesichert sind und damit „populistischen Abenteurern“ à la Trump oder aktuell Orban in Ungarn oder Le Pen in Frankreich Raum gegeben wird.
Sie werben in Ihrem Buch dafür, dass die Europäische Union sich stärker von den USA bzw. dem „Westen“ emanzipieren und auf die eigenen, europäischen Interessen pochen sollte. Können Sie kurz umreißen, in welchen Politikfeldern Sie Änderungsbedarf sehen?
Das von der EU 2021 beschlossene Wiederaufbauprogramm zur Bekämpfung der Folgen der Pandemie sowie zur Investition in klimafreundliche Technologien war nicht nur ein Beweis für eine größere innere Geschlossenheit, sondern auch ein Schritt in Richtung auf eine größere ökonomische Unabhängigkeit sowohl von den USA als auch von China. Das noch im Dezember 2020 von der EU beschlossene Investitionsabkommen mit China, in dem Verbesserungen des Zugangs europäischer Unternehmen zum chinesischen Markt sowie fairere Wettbewerbsbedingungen ausgehandelt wurden, wäre ebenfalls ein Schritt in diese Richtung gewesen. Amerikanische wie europäische Befürworter einer „Entkoppelung“ von China wegen der dortigen Menschenrechtsverletzungen haben im Mai 2021 zum vorläufigen Stopp dieses Abkommens geführt, was sich nicht zum Vorteil einer größeren Unabhängigkeit europäischer Unternehmen gegenüber den USA ausgewirkt hat.
Noch deutlicher war der Wunsch der EU nach größerer Unabhängigkeit auf militärischem Gebiet, zusammengefasst unter dem Begriff der „strategischen Autonomie“. Insbesondere französische und deutsche Politiker hatten sich zum Ziel gesetzt, militärische Projekte wie z. B. die Entwicklung eines neuen europäischen Kampfjets umzusetzen. Ähnliche Projekte in Bezug auf den Ausbau der Digitalisierung waren angedacht. Demgegenüber befürworteten transatlantisch gesinnte Politiker die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den USA unter dem Stichwort der „nuklearen Teilhabe“. Die Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Lagern wurden schließlich durch den Krieg in der Ukraine entschieden. Nicht nur das erneute Heranrücken an die USA bestimmt vorerst die Politik der Europäer, sondern auch die völlige Infragestellung der vorangegangenen Strategie des Ausgleichs und der Verständigung mit Russland und China. Die Abhängigkeit der EU von den USA auf militärischem Gebiet (Beispiel: die Anschaffung der F-35-Tarnkappenjets durch Deutschland) und auf ökonomischen Gebiet (Beispiel: Ersatz der russischen Gaslieferungen durch amerikanisches Fracking-Gas) scheint für die nächsten Jahre zementiert zu sein.
Das Interview mit den Autoren Simone Lück-Hildebrandt und Dr. Reinhard Hildebrandt führte Dr. Julius Alves aus dem Lektorat Geschichte/ Politik.
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