Nachdem rechtsextremistische Straftaten im Jahr 2017 im Verhältnis zu den vorausgegangenen Jahren zurückgegangen waren, steigen diese seit 2019 massiv und in beängstigender Weise an. Was diese Statistik ganz besonders brisant macht, ist die zunehmende Anzahl von Rechtextremisten in neuralgischen Positionen. So wurden in jüngster Zeit bspw. immer mehr Fälle von Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden in der gesamten Republik bekannt.
Vor diesem Hintergrund hat Tanjev Schultz mit einem Autor_innenteam dieses Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, indem er der Frage nachgegangen ist: „Schaut der Staat scharf genug hin, um die Gefahr des Rechtsextremismus zu erkennen?“
Erste Eindrücke über den Band können Sie dem folgendem Interview entnehmen.
Tanjev Schultz (Hrsg.)
Auf dem rechten Auge blind?
Rechtsextremismus in Deutschland
2021. 148 Seiten, 5 Abb. Kart. € 17,–
ISBN 978-3-17-040064-1
Aus der Reihe „Perspektiven auf Gesellschaft und Politik“
Herr Professor Schultz, Ihr neues Buch beleuchtet den Rechtsextremismus. Wie präsent ist er in unserer Gesellschaft?
Er ist stärker präsent, als dies dem liberalen Selbstbild der Bundesrepublik entspricht. Nach Angaben der Behörden gibt es bundesweit mehr als 32.000 Rechtextremisten, davon etwa 13.000 gewaltorientierte. Diese Zahlen zeigen aber nicht alles. Rassismus und rechtsextreme Einstellungen durchziehen viele Bereiche der Gesellschaft. Es gibt eine „Zwiebelstruktur“, wie das Forschungsteam um Wilhelm Heitmeyer in dem Buch argumentiert. Um eine militante innere Schicht lagern sich weitere Schalen, in denen ideologische Beihilfe begangen wird. Und das schon seit Jahrzehnten. Die Historikerin Franka Maubach lenkt den Blick auf die 1960er und 1980er Jahre, in denen rechtsextreme Gruppierungen ihre Strukturen in der BRD aufbauten und auch immer wieder Anschläge verübten.
Im Jahr 2017 waren die Zahlen rechtsradikaler Straftaten rückläufig, seitdem steigen sie in erschreckendem Ausmaß wieder an. Wie sind diese Zahlen zu erklären?
In den Jahren 2015/16 hatte es zeitweise jeden Tag Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte gegeben. Die politisch stark aufgeheizte Debatte – denken Sie an den Streit zwischen CSU und CDU in dieser Zeit – beruhigte sich 2017 ein wenig. Dann aber wurde es wieder heftiger, und in den vergangenen Monaten vermischten sich rechtsextreme Aktionen auch noch mit den Protesten gegen die Anti-Corona-Maßnahmen. Wir erleben seit einigen Jahren eine gesellschaftliche Polarisierung, von der sich Rechtsextremisten beflügelt fühlen. Dabei spielen auch die „sozialen“ Medien eine ungute Rolle. Bei den Zahlen gibt es noch einen Faktor: Die Behörden sind etwas aufmerksamer geworden, wenn es um politisch motivierte Taten geht. Das führt dann auch zu einem Anstieg in den Statistiken, ohne dass dies unbedingt bedeuten muss, dass es früher viel weniger Straftaten gegeben hat.
Im vergangenen Jahr waren auch Polizistinnen und Polizisten in Skandale verwickelt. Rechtsradikale Straftaten, die von Beamten verübt werden, wiegen doppelt schwer: zum einen, weil die Staatsmacht missbraucht wird, zum anderen, weil mit einer großen Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle zu rechnen ist. Wie ist dieses Problem einzuordnen?
Oft heißt es beschwichtigend, das seien nur „Einzelfälle“. Doch es kamen immer neue Fälle ans Licht. Offenbar gibt es sehr wohl ein größeres Problem in den Behörden. Und das ist wirklich beunruhigend. Denn es ist, wie Sie sagen: Die Beamten stehen für den Staat, sie repräsentieren sein Gewaltmonopol. Hier darf es nicht einmal den Anschein geben, Beamte könnten extremistisch ticken. Viel zu lange wurden die Augen vor diesem Problem verschlossen. Es geht dabei nicht nur um Beamte, die sich tatsächlich selbst als Rechtsradikale verstehen. Es geht auch um subtile Formen der Diskriminierung von Menschen anderer Hautfarbe und um eine mangelnde Sensibilität im Umgang mit Betroffenen von Rassismus.
Wie lassen sich die „Staatsdiener“ verstehen, die der Reichsbürgerbewegung anhängen?
Verständnis habe ich dafür gar nicht. Sie meinen aber sicherlich „verstehen“ im Sinne von „deuten“ oder „erklären“. Dazu lässt sich sagen, dass Beamte und speziell der Polizeidienst und die Bundeswehr – Berufe, in denen Waffen getragen werden dürfen – anziehend wirken auf konservative Menschen und teilweise auch auf Menschen mit einem gewissen Hang zum Autoritarismus. Eigentlich müssten sie dem Staat gegenüber besonders loyal sein, was bei vielen Beamten wohl auch der Fall ist. Aber manche haben offenbar den Eindruck, unser Staat sei ja viel zu lasch und schwach. Das ist der Nährboden für die krude und gefährliche Idee, die BRD habe gar keine Legitimität und man dürfe sich nun selbst als Staat aufführen.
Was kann die Gesellschaft und was muss der Staat in dieser Situation unternehmen?
Zunächst einmal muss der Staat dafür sorgen, dass in seinen Behörden die richtigen Leute arbeiten. Bei der Rekrutierung, Aus- und Fortbildung, aber auch im normalen Dienstalltag der Beamten muss viel stärker darauf geachtet werden, dass weder Extremismus noch unbewusste Formen der Diskriminierung eine Chance haben. Wichtig wären deshalb eine bessere Kontrolle der Polizei, beispielsweise durch Ombudspersonen und unabhängige Beschwerdestellen. Das reicht aber nicht. Als Bürgerinnen und Bürger müssen wir alle Zivilcourage zeigen und eingreifen, wenn Menschen drangsaliert oder diskriminiert werden.
Das Interview mit dem Herausgeber Prof. Dr. Tanjev Schultz führte Dr. Peter Kritzinger aus dem Lektorat des Bereichs Geschichte/ Politik/ GesellÂschaft.
Bleiben Sie auf dem Laufenden –
Abonnieren Sie den Kohlhammer Newsletter