Höhenflug der AfD,
Vertrauens­verlust der Regierung,
Krise der Demokratie

Immer weniger Menschen beteiligen sich an Wahlen. Oder sie wählen AfD. Und sie gehen auf die Straße: In ostdeutschen Städten gibt es wieder Montags­demonstrationen. Wutbürger und Quer­denker stellen das gesamte „System“ infrage. Warum wählen auch in ehemaligen SPD-Hoch­burgen viele Menschen AfD? Warum haben sich langjährige SPD-Mitglieder enttäuscht aus der Partei zurückgezogen?

Das Buch „Und Du bist noch in der SPD?!“ von Rainer Gries ruft zu einem Aufbruch „von unten“ auf.
Rainer Gries, von 1977 bis 2013 in der Friedrich-Ebert-Stiftung u. a. für die poli­tische Bildung zuständig, von 2010 bis 2013 Leiter der Kurt-Schumacher-Akademie in Bad Münster­eifel, legt eine schonungs­lose Bestands­aufnahme vor und will seine Partei auf­rütteln. Wie kann die SPD Vertrauen zurückgewinnen, wie können fest­gefahrene Struk­turen aufgelöst werden?
Wir haben mit dem Autor folgendes Gespräch geführt.

SPD Fahne
Foto: Bernd Schwabe

Herr Gries, früher konnte gerade die SPD auf eine starke Verankerung in den Kommunen und Ortsvereinen bauen. Sie setzen zuallererst auf eine „Öffnung nach innen und von unten“, fordern Mitglieder auf, mehr Betei­ligungs- und Mitbestim­mungs­rechte einzuklagen. Über Partei­reformen wird meist auf Bundes- oder Landes­ebene diskutiert. Wo sehen Sie Ansatz­punkte an der Basis?

Parteireformen und Beschlüsse „von oben“ hat es in den letzten Jahren durchaus gegeben. Aber sie sind immer wieder ins Stocken geraten. Es mangelte meist auch an der Umsetzung unten. Die Auswahl von Mandats­trägern wird häufig im Vorfeld von Wahlen in kleinen örtlichen und regionalen Zirkeln festgelegt. Netzwerke zur Verteilung von Listen­plätzen bestehen über Jahre und Jahr­zehnte. Mehr Einfluss der Basis, insbesondere auf Personal­entschei­dungen, könnte wieder Bewegung in die SPD bringen. Wenn das Engagement in der Partei attraktiver wird, werden auch wieder mehr Menschen mitmachen.

Sie machen vor allem Berufs­politiker und lang­jährige Funktionäre, insbesondere auf Kreis- und Bezirks­ebene, für den Still­stand verantwortlich. Sie kritisieren, dass bei Delegierten­wahlen Gegen­kandidaturen oft uner­wünscht sind und im Vor­feld verhindert werden. Wie kann die Partei­basis dagegen angehen?

Das Organisations­statut der SPD im Bund bietet die Möglich­keit, im Rahmen von Mitglieder­versammlungen Kandidaten zum Beispiel für Landtage und den Bundestag zu wählen. Das Parteiengesetz sieht das eigentlich vor, das Delegierten­prinzip sollte eher die Ausn­ahme sein, ist aber zur Regel geworden. Etliche SPD-Satzungen enthalten durchaus die Möglich­keit, Voll­versammlungen entschei­den zu lassen. Das sollte genutzt werden! Die Wahl­verfahren in der Stadt Bonn beispiels­weise tragen den Willen der Mitglieder an der Basis in vorbild­licher Weise auf die höheren Organisationsebenen. Erfreulicher­weise gibt es auch in anderen Städten und Kreisen in NRW ähnliche Initiativen in SPD-Gliederungen.

Seit dem Bundesparteitag der SPD 2019 können auch Mitglieder­begehren und Mitglieder­entscheide leichter initiiert werden, Mitglieder­voten sind möglich.

Wenn Initiativen von Mit­gliedern und Ortsvereinen erfolg­los bleiben, über Anträge zu den Kreisparteitagen eine Änderung der Entscheidungs­verfahren mit dem Ziel zu erreichen, Kandi­daten für den Bundes­tag oder die Landtage in Mitglieder­versammlungen in den Wahlkreisen zu wählen, bleibt der Weg über Mitglieder­begehren und Mitglieder­entscheide. Es braucht sicher Beharrlich­keit und Mut, mehr Mitbestimmung durchzusetzen. Aber „Mehr Demokratie wagen!“ sollte der Partei von Willy Brandt eigentlich nicht schwerfallen …

Sie untersuchen beispielhaft die Verhältnisse in NRW, der ehemaligen Herz­kammer der Sozial­demokratie. Die Wahl­beteiligung bei der Landtags­wahl in NRW 2022 ist auf 56% gesunken. Die SPD errang 26,7%. Im Sommer 2023 war die SPD in Umfragen auf 22% abgerutscht.

Es ist allerhöchste Zeit, gegen­zusteuern. Daran sollten sich alle betei­ligen, die der Partei verbunden sind oder waren. Es gibt in der SPD viele lang­jährige Mitglieder, die nicht austreten würden, die sich aber längst nicht mehr aktiv einbringen. Peter Brandt hat diese unzufriedenen Sozial­demokraten „die größte SPD-Arbeits­gemeinschaft“ genannt. Ich hoffe auch auf eine starke Beteiligung der Jusos.

Eine Begegnung mit einem früheren Schul­freund, der auf Hartz IV angewiesen war, hat Sie erschüttert. Sie engagieren sich heute für die Quartiers­sozialarbeit in einem Wohn­gebiet, in dem viele Menschen mit geringem Einkommen leben. Früher haben Sie Flüchtlinge betreut.

Ich habe Migranten wöchentlich Beratungs­stunden angeboten, für sie Briefe übersetzt, Antrags­formulare für Integrations­kurse ausgefüllt, sie zur Anmeldung in die Nachbar­stadt gefahren. Mir wurde bewusst: Warum biete ich Bewohnern in meinem ehemaligen Stimmbezirk keine Hilfe an?

Herr Gries, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Karin Burger aus dem Lektorat Geschichte/Politik.

Bildnachweis: commons.wikimedia.org/wiki/File:2016-04-23_Anti-TTIP-Demonstration_in_Hannover,_(10049).jpg
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Rainer Gries
„Und Du bist noch in der SPD?!“
Mehr Demokratie wagen! – Eine Streitschrift

2023. 121 Seiten. Kart.
€ 19,–
ISBN 978-3-17-042510-1

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