Unser politisches System offenbart gerade in Zeiten der Krise veritable Schwächen: Reformstaus treten offen zu Tage, dringend benötigte Entscheidungen bleiben aus, Politiker scheinen auf Sicht zu navigieren. Der wachsende Unmut in der Bevölkerung, die vielbeschworene „Politikverdrossenheit“ und die gehemmte Politik scheinen systemisch bedingte Probleme zu sein. Doch wo soll man etwaige Reformen des politischen Systems ansetzen? Was muss wie verändert werden? Jörn Kruse stellt in seinem Buch ein systematisches Reformkonzept vor, das eine engere Einbeziehung der Bürgerschaft vorsieht. Erste Eindrücke können Sie dem folgenden Interview entnehmen.
Jörn Kruse
Bürger an die Macht
Wie unsere Demokratie besser funktioniert
2020. 296 Seiten, 7 Abb. Kart. € 29,–
ISBN 978-3-17-038879-6
Aus der Reihe Politik in Wissenschaft und Forschung
Herr Professor Kruse, in vielen Ländern der westlichen Welt kann man zunehmend eine Politikverdrossenheit in weiten Teilen der Bevölkerungen beobachten. Was sind die primären Ursachen für diese Entwicklung, die auch vor Deutschland keinen Halt macht?
Viele Bürger haben das Gefühl, dass die Politiker zwar viel Schönklingendes sagen, aber nicht die Probleme des Staates und der Gesellschaft lösen – von einer weitsichtigen Gestaltung der Zukunft ganz zu schweigen. Sie sehen bei den Politikern häufig auch nicht die Anreize und die Fachkompetenzen, die dazu nötig wären. Die Kluft zwischen der politischen Klasse und den Bürgern ist größer geworden, was vom politischen System noch gefördert wird. Da das Image der Politiker und Parteien immer schlechter geworden ist, sinken die Anreize der Bürger, sich dort zu engagieren. Diese Prozesse verstärken sich gegenseitig.
Mangelnde politische Mitsprache der Bürger und undurchsichtige Manöver der Parteien – wie lässt sich diesen tiefwurzelnden Missständen in systematischer Weise begegnen?
Die Bürger sind nicht unpolitischer als früher und viele sind auf einigen Feldern auch fachkompetent und außerhalb der Parteien auch politisch engagiert. Aber sie haben aufgrund des Wahlrechts nur sehr wenig Einfluss auf die Politik und fast gar keinen Einfluss auf die Personen, die sie machen. Die Parteien haben durch Kandidaten und Listen alles schon vorher entschieden. Differenzierte Meinungen zu einzelnen Problemen verschwinden im Eintopf der „Pauschalstimmen“ bei den Wahlen.
Die „Demokratische Reformkonzeption“ gibt den Bürgern deutlich mehr Möglichkeiten, ihre politischen Präferenzen differenziert zum Ausdruck zu bringen – und zwar in einer Weise, die für die politische Praxis relevant ist. Die Bürger wählen direkt die Regierung, das Parlament, mehrere parlamentarische Fachräte und den parteien-unabhängigen Bürgersenat. Letzterer entscheidet über die Besetzung der Gerichte und der Vorstände der staatlichen Fachinstitutionen, um diese vom Parteieneinfluss zu befreien und die fachliche Rationalität zu stärken. Damit wird auch die Gewaltenteilung gestärkt und die Demokratie stabiler. Die politische Partizipation der Bürger wird gefördert, indem die Zugangsbarrieren gesenkt werden.
Welche neuen Kompetenzen und Pflichten kämen in Ihrer Reformkonzeption auf die Bürger:innen zu?
Die Kompetenzen der Bürger werden in der Reformkonzeption enorm gestärkt – und damit auch ihre Anreize, sich zu beteiligen und zu informieren. Letzteres wird erleichtert durch umfangreiche Zugänge zu Informationen und Fachkompetenzen von Experten. Dabei sorgt der Bürgersenat so weit wie möglich für Unabhängigkeit und Pluralität der Inhalte – und außerdem für Darstellungen auf unterschiedlichen kognitiven Anspruchsniveaus.
Ihr Konzept setzt eine konsequente Reform des Systems voraus. Wie muss eine solche grundlegende Systemreform geplant und umgesetzt werden, damit sie erfolgreich verlaufen kann?
In einer etablierten Demokratie werden politische Systeme nicht in einem Akt neu geschaffen, wie das manchmal nach einer Revolution oder einem Krieg der Fall sein kann. Es kann jetzt nur darum gehen, Vorschläge zu machen, in welcher Weise das System reformiert werden sollte, um diese in eine gesellschaftliche Diskussion einzuführen. Es handelt sich bei der Demokratischen Reformkonzeption zwar um ein stimmiges Gesamtsystem. Sie enthält aber auch zahlreiche Einzelvorschläge, die man autonom diskutieren und bewerten kann. Die einzelnen Elemente werden unterschiedlich viel Kritik oder Zustimmung erfahren und sie erfordern einen stark unterschiedlichen Reformaufwand. Im Kern geht es um das Formulieren und Diskutieren von Alternativen für das bestehende System, das ausweislich zahlreicher Untersuchungen von den Bürgern seit vielen Jahren sehr kritisch bewertet wird. Für die Akzeptanz und Stabilität unserer Demokratie sind Reformdiskurse unabdingbar.
Das Interview mit Herrn Prof. Dr. Jörn Kruse führte Herr Dr. Peter Kritzinger aus dem LekÂtorat des Bereichs Geschichte/ Politik/ GesellÂschaft.
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