Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus

 

Anlässlich des Erscheinens der ersten Auflage des Bandes „Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus“ führten wir mit der Autorin Dr. Christine Preißmann das folgende schriftliche Interview. Mittlerweile liegt das Werk in zweiter Auflage vor.

Portrait von Christine Preißmann
Christine Preißmann

Frau Dr. Preißmann, in Ihrem neuen Buch haben Sie sich mit „Glück und Lebens­zufriedenheit für Menschen mit Autismus“ beschäftigt. Könnten Sie uns bitte kurz erzählen, wie Sie auf dieses Thema gekommen sind?

Lange hat man sich ja vor allem darum gesorgt, dass Menschen mit Autismus in Schule, Beruf und Alltag irgendwie zurechtkommen, und das ist und bleibt immens wichtig. Aber immer mehr zeigt sich doch, dass das nicht genug ist, dass ein „Funktionieren“ eben nicht unbedingt gleich­bedeutend ist mit Lebens­zufriedenheit, und dass Menschen mit Autismus in manchen Bereichen andere Bedürfnisse haben als andere Menschen, um glücklich zu sein. Es war mir also sehr wichtig, in Buchform heraus­zuarbeiten, was sich die Betroffenen wünschen und welche Maßnahmen geeignet sind, um auch ihnen ein schönes und glück­liches Leben zu ermöglichen.

Was ist das Besondere an Ihrem Buch?

Glück ist etwas sehr Individuelles. Mein Buch enthält deshalb neben theoretischen Aus­führungen über die Erforder­nisse von Menschen mit Autismus vor allem zahlreiche Berichte selbst betroffener Menschen, die erläutern, was für sie zum Glücklich­sein zählt.
Die vielfältigen Möglich­keiten, die das Leben bietet, sollen im Zuge der Inklusion ja auch Menschen mit Autismus offen stehen. Es gilt also, individuelle Lebens­entwürfe auszu­wählen und zu begleiten – gemeinsam mit dem jeweiligen Betroffenen. Dafür ist es notwendig, nach den ganz eigenen Wünschen, Zielen und Bedürfnissen zu fragen und päda­gogische, therapeutische und lebens­praktische Maßnahmen diesen Heraus­forderungen anzupassen. Dabei soll das Buch eine Hilfe­stellung und Anregungen bieten.

Im Buch kommen viele verschiedene Menschen mit Autismus zu Wort, die berichten, was für sie Glück und Lebens­zufrieden­heit bedeutet. Wie haben Sie diese Menschen gefunden und was hat Sie besonders an ihren Antworten interessiert?

Es war mir wichtig, viele Menschen zu Wort kommen zu lassen, denn auch Menschen mit Autis­mus sind sehr unter­schiedlich, jeder hat eigene Vor­stellungen für sein Leben. Ich wollte deshalb nicht zu viele Vorgaben machen, sondern einfach schauen, was kommt. Und es kamen wirklich groß­artige und ausdrucks­starke Texte, die zeigen, dass autistische Menschen durchaus eine Vorstellung davon haben, was sie glück­lich macht. Außerdem – und das ist vielleicht noch wichtiger – haben mir sehr viele Betroffene, als sie mir ihre Texte schickten, geschrieben, wie wichtig und wie gut es für sie war, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Sie berichteten, dass es ihnen sehr gut getan habe, ihre eigenen Bedürf­nisse äußern zu dürfen. – Schade, dass das noch nicht selbst­verständlich ist, aber vielleicht trägt mein Buch ein bisschen dazu bei. Das würde mich sehr freuen.

Haben Menschen mit Autismus eine andere Vorstellung von Glück und Lebens­zufrieden­heit? Was ist ihnen besonders wichtig?

Ganz allgemein ist ein Mensch umso glück­licher, je mehr die Realität seinen eigenen Vorstel­lungen von einem gelungenen Leben entspricht. Und umgekehrt fühlt sich unglücklich, wer erkennt, dass Wünsche und Lebens­wirklich­keit nur wenige Gemeinsam­keiten aufweisen. Oft ist dies dann der Fall, wenn man bemerkt, dass andere es vermeint­lich besser haben, dass sie genau das Leben führen können, das man sich auch selbst erträumt hat und das einem versagt bleibt. Viele autistische Menschen beschreiben genau dies. Im Prinzip sind sie nicht einsam, wenn sie alleine sind, aber schwer wird es dann, wenn sie andere Menschen unbeschwert in Gruppen zusammen sehen. Eigentlich ist man zufrieden damit, noch bei den Eltern zu leben; wenn man aber sieht, wie sehr die Gleich­altrigen ihre Freiheit in der eigenen Wohnung genießen, wünscht man sich das auch. Möglicher­weise ist dieses Vergleichen der Grund dafür, dass viele Menschen mit Autismus dann, wenn man sie nur kurz nach ihrer Lebens­zufriedenheit befragt, lediglich relativ niedrige Zufriedenheits­werte angeben.
Gibt man ihnen aber die Möglich­keit, sich ausführ­licher damit zu beschäftigen, scheint sich dies zu ändern. Die Texte der betroffenen Menschen in meinem Buch zeigen doch recht deutlich Bilder von glück­lichen Menschen. Dies war auch für mich ein bisschen überraschend. Gewiss ist nicht immer alles gut und schön und schon gar nicht leicht. Aber Menschen mit Autismus neigen dazu, vor allem negative Situationen im Gedächtnis zu behalten und darüber zu grübeln. Erst die ganz gezielte Beschäfti­gung mit positiven Aspekten gibt ihnen die Möglich­keit, auch dies bewusster wahrzunehmen. Das scheint mir ein sehr wichtiger Ansatz, auch in therapeutischer Hinsicht.
Eine Betroffene beschreibt sehr schön, wie wichtig für das Glücklich­sein ein guter Kompromiss ist: „Ich möchte gerne unabhängiger sein, mehr Situationen im meinem Leben alleine bewältigen, unbelastet am gesellschaft­lichen Leben teilnehmen können, mir nicht vorher überlegen müssen, wie ich eine bestimmte Situation werde bewältigen können, spontaner sein. Trotzdem weiß ich, dass ich auch mit Autismus glücklich sein kann (…). Da es Dinge gibt, die ich voraus­sichtlich niemals haben werde, liegt das Glück auch darin, die Ansprüche nicht zu hoch anzusetzen und mit dem zufrieden zu sein, was ich habe“ (I. Köppel, in: Preißmann 2015: Glück und Lebens­zufriedenheit für Menschen mit Autismus).
In jedem Einzelfall gilt es außerdem, den Spagat zu meistern zwischen sinn­voller Individualität und notwendiger Anpassung, um in Schule, Beruf und Gesell­schaft dabei sein zu können, wenn man das möchte. Es zeigen sich aber Tendenzen, dass es sinnvoll sein kann, dabei vor allem das Lebens­alter zu berücksichtigen. Autistische Schüler wünschen sich doch in hohem Maße, so zu sein wie die anderen. Dann kann es notwendig sein, ihnen dabei zu helfen, sich im Klassen­verband zurechtzufinden, und ihnen Kompetenzen zu vermitteln, die man in diesem Lebens­abschnitt braucht, um dabei sein zu können. Im Erwachsenen­alter dagegen haben die meisten Menschen mit Autismus den starken Wunsch, sich nicht mehr länger anpassen zu müssen, sondern so sein zu dürfen, wie sie sind, weil sie merken, dass alles andere zu viel Stress bedeutet, und weil sie ihr Lebens­glück in diesem Lebens­abschnitt eher über eine größt­mögliche Indivi­dualität definieren. Viele Betroffene beschreiben, dass der Druck, sich alters­gemäß zu verhalten, mit der Zeit geringer und das eigene Verhalten authen­tischer wurde. Dies wird von zahlreichen erwachsenen Menschen mit Autismus als das größte Glück ihres Lebens beschrieben. Sie brauchen Unterstützung dabei, ihre Indivi­dualität zu leben und den für sie passenden Lebens­entwurf zu finden. Das Ziel dabei ist dann eben nicht die „Normali­sierung“, also die Fähig­keit, nicht aufzufallen, sondern es geht darum, ein für die eigene Person passendes Leben zu führen.

Was hat dazu beigetragen, dass das Leben autis­tischer Menschen heute indivi­dueller ist? Wo sehen Sie noch Verbesserungs­möglichkeiten?

Es ist wichtig, dass man den Betroffenen die Möglich­keit gibt, sich mit „Gleich­gesinnten“ auszutauschen, etwa in Selbsthilfe­gruppen, die es inzwischen ja überall im deutsch­sprachigen Raum gibt, und sich auch selbst zur eigenen Proble­matik zu äußern. Selbst­bewusstsein und auch Wohl­befinden lassen sich dadurch ganz erheb­lich steigern. Auch die immer besseren therapeu­tischen Möglichkeiten tragen dazu bei, dass heute vieles als Lebens­entwurf bedacht werden kann, was früher undenk­bar schien. Und schließlich ist hier natürlich auch die Inklusion zu nennen, die das ganz selbst­verständliche Mit­einander aller Menschen zum Ziel hat.

Autismus - bei Kohlhammer

Was hat sich durch die Einführung des „inklusiven Bildungs­systems“ geändert?

Ich denke, die Inklusion kann eine große Chance sein. Sie ermöglicht es vielen Menschen mit Autismus, von den Gleich­altrigen zu profitieren und auch Schul­abschlüsse zu machen, die andern­falls so nicht unbedingt möglich wären. Aber die Inklusion ist nicht nur für Menschen mit Behin­derungen da, sondern für die ganze Gesellschaft. Auch die nicht­behinderten Mitschüler profitieren. Es wird künftig ein bisschen selbst­verständlicher werden, Menschen mit Behin­derungen in der Gesell­schaft teilhaben zu lassen. Notwendig dafür ist jedoch eine gute finanzielle und personelle Ausstattung.
Man darf aber nicht vergessen, dass die Inklusion nicht in jedem Fall sinnvoll und möglich ist. Es gibt autis­tische Menschen, die nicht davon profitieren und für die es besser sein kann, eine separate Schule zu besuchen. Es ist daher wichtig, die Förder­schulen nicht vollständig abzu­schaffen, damit nicht einzelne Schüler übrig- und damit auf der Strecke bleiben als die Verlierer in einem inklusiven Schul­system, in dem es eigentlich keine Verlierer mehr geben sollte.

Was bedeutet für Sie persönlich Glück und Lebens­zufriedenheit?

Ich habe herausgefunden, dass ich an freien Tagen vor allem dann zur Ruhe komme und Glück empfinde, wenn ich drei Aspekte kombinieren kann: Genuss bzw. Ent­spannung, Aktivität und die dosierte sinnvolle Tätig­keit, z.B. an meinen Projekten zum Thema Autismus. Im Gegensatz zu früher bin ich viel aktiver, gehe häufiger aus und habe deshalb auch öfter die Möglich­keit, schöne Erfahrungen zu machen. Ich bin offener geworden und viel interessierter an meiner Umgebung. Und wenn ich so mit offenen Augen durch die Gegend laufe, erkenne ich viel Schönes, was mir Freude macht.
Wichtig sind mir auch Routinen und Rituale, die verlässlich wieder­kehren. Auch dadurch erklärt sich wohl meine Liebe zum Weihnachts­fest. Ganz egal, ob es mir gut geht oder eher nicht, ob ich müde, traurig oder glücklich, gesund oder krank bin – es wird in jedem Jahr aufs Neue Weihnachten. Für jeden Menschen und auch für mich. Das hat etwas ungeheuer Tröst­liches. Und das ist die Eigen­schaft von Routinen und Ritualen ganz allgemein. Deshalb sind sie gerade für autistische Menschen ungeheuer wichtig.
Ein sehr großes Glück war es für mich auch, eine schwere Erkrankung überwinden zu dürfen, die mich für einige Monate völlig außer Gefecht setzte. Ich hatte Angst, weil ich fürchtete, die Lebens­freude und die Aktivität, die ich mir über Jahre hinweg mühsam erkämpft hatte, wieder zu verlieren. Aber gleich­zeitig erkannte ich allmäh­lich auch die ungeheure Kraft, die man aus solch schwierigen Situationen ziehen kann. Das Leben wurde mir irgendwie kost­barer als vorher, ich bin nun dankbar, wenn ich morgens aufwache und mich gut fühle, denn ich weiß jetzt, dass das keines­wegs selbst­verständ­lich, sondern ein großes Geschenk ist. Ich bin insgesamt vielleicht nicht mehr so unbekümmert wie früher, aber ich habe vieles gewonnen, vor allem die alltägliche Dank­barkeit, wenn die Menschen, die mir wichtig sind, gesund bleiben. Dagegen ist alles andere zweitrangig.
Ich kann in meinem Beruf arbeiten und erlebe auch bei meinen Vorträgen viele schöne Momente. Inzwischen kann ich trotz aller Schwierig­keiten ein schönes und erfülltes Leben führen. Ich habe liebe Eltern und Therapeutinnen, die mich schon seit vielen Jahren unter­stützen, wofür ich unendlich dank­bar bin. Und deshalb, aus all diesen Gründen, darf ich mich in meinem Leben über mangelndes Glück eigentlich nie wieder beschweren.

Wir bedanken uns recht herzlich für Ihre Zeit und Mühe!

Das Interview führte Celestina Filbrandt.


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Dr. med. Christine Preißmann bei der 14. Fachtagung des IVS-Nürnberg (2016) über das Thema: Psychotherapie und Asperger-Autismus


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2016 war Dr. med. Christine Preißmann zu Gast bei „Bärbel Schäfer – der Sonntagstalk in hr3“

Christine Preißmann
Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus

2., aktual. Auflage 2021. 184 Seiten. Kart.
€ 29,–
ISBN 978-3-17-039142-0

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Folgende weitere Bücher von Dr. Christine Preißmann sind erhältlich:

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