Anlässlich des Erscheinens des Bandes „Handbuch Jugend“ führten wir mit den Herausgebern Prof. Dr. Burkhard Gniewosz und Prof. Dr. Peter F. Titzmann das folgende schriftliche Interview:
- „Frühreif“ vs. „erst recht spät erwachsen“ – was genau ist eigentlich das Jugendalter und wie lassen sich diese unterschiedlichen Wahrnehmungen bzw. Einschätzungen erklären?
Das interessante am Jugendalter ist, dass man relativ genau sagen kann, wann es anfängt, nämlich mit der Pubertät. Hier sind sich die Forscherinnen und Forscher relativ einig. Allerdings variiert der Eintritt in die Pubertät erheblich. Bei einigen Mädchen beginnen erste körperliche Veränderungen bereits mit 8 Jahren, bei anderen erst im Teenager-Alter.
Was das Ende des Jugendalters angeht, gehen die Meinungen schon deutlich auseinander. Manche meinen, dass dies mit der Volljährigkeit einhergeht. Aber wenn man in der Vorlesung im ersten Semester etwa 18-jährige jungen Menschen fragt, wer sich erwachsen fühlt, ist das meist eine Minderheit.
Hier haben wir auch schon einen wichtigen Punkt: der Übergang vom Jugendalter in das Erwachsenenalter ist sehr stark von der eigenen Wahrnehmung des Individuums anhängig. Für einige ist es der Einstieg ins Berufsleben, für andere der Führerschein, die Elternschaft oder die finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern. Einen wirklich allgemeinverbindlichen Marker für den Eintritt in das Erwachsenenalter gibt es eigentlich nicht. Das erklärt auch, warum Jugendliche vor Gericht nach dem 18. Geburtstag oft nach Jugendstrafrecht behandelt werden.
Dennoch existieren in einer Gesellschaft, wenngleich recht unscharfe, Vorstellungen darüber, wann das Erwachsenenalter beginnt. Diese Einschätzungen orientieren sich häufig an anderen jungen Menschen gleichen Alters.
„Frühreif“ bedeutet hier also in alle Regel, dass die Pubertät früher als bei Altersgleichen eintritt. Ähnlich verhält es sich mit „recht spät erwachsenen“. Diese Einschätzungen hängen somit sehr stark von der jeweiligen Vergleichsgruppe ab.
- „Die Jugend ist auch nicht mehr das, was sie einmal war“ – diesen Satz hört man gerne von Personen, die diese Phase ihres Lebens bereits hinter sich gelassen haben. Ist die Jugend heute wirklich so schlimm und so viel anders als früher?
Solche Aussagen finden Sie bereit auf Tonscherben, die bei Ausgrabungen in Ur gefunden wurden. Diese Tonscherben sind etwa 4000 Jahre alt. Schauen Sie willkürlich in die Epochen der menschlichen Geschichte, Sie werden ähnliche Aussagen wieder und wieder finden. Die Jugend heute ist nicht schlimmer als die Jugend vor 4000 Jahren. Studien aus Deutschland und der Schweiz zeigen sogar, dass Jugendliche heute konservativer sind als vor einigen Jahrzehnten. Die Wahrnehmungen der jeweiligen Erwachsenengeneration gleichen sich allerdings in ihrer Negativität. Das ist auch verständlich. Jugendliche müssen ein eigenständiges Selbst, eine eigene Identität, entwickeln. Dieser Prozess geht meist mit einer Abgrenzung von den Einstellungen, Werten, Verhaltensweisen etc. der Elterngeneration einher. Forschungsergebnisse aus der Neuropsychologie zeigen außerdem, dass das Belohnungszentrum im Gehirn vor den Bereichen der Impulskontrolle reift, was Jugendliche anfälliger für spontane Handlungen macht. Eltern, bei denen beide Bereiche bereist vollständig entwickelt sind, können da Schwierigkeiten haben, das Verhalten ihrer Kinder immer nachzuvollziehen.
Mit diesen Herausforderungen hat es dann jede Erwachsenengeneration zu tun. Fragen Sie Eltern von Jugendlichen und Sie bekommen die Antwort, dass das recht anstrengend ist (ein Euphemismus). So können diese negativen Wahrnehmungen, zumindest zum Teil, erklärt werden.
Was sich tatsächlich verändert hat, ist der Eintritt in die Pubertät. Die Menarche trat bei Mädchen um 1840 im Alter von etwa 17 Jahren ein, heute bereits im Alter von etwa 12. Die biologische Reife hat sich also sehr stark nach vorn verlagert.
- Welche Themen werden im „Handbuch Jugend“ vorgestellt. Was ist das Besondere an diesem Werk – was macht die Jugend so faszinierend?
Was uns an dieser Lebensphase fasziniert, ist die Vielfalt an Veränderungen, die stattfinden. Es verändern sich derartig viele Dinge (das Denken, der Umgang mit Emotionen, der Körper etc.). Manche Veränderungen finden zeitgleich statt, andere sind abhängig von vorangegangenen Erfahrungen, beispielsweise in der Schule, im Elternhaus oder mit Gleichaltrigen. Die Jugendlichen selbst sowie deren soziale Kontexte müssen auf diese Komplexität reagieren.
Das Buch versucht diese Dynamiken und die Komplexität zu beleuchten und dabei auch Ursachen und Konsequenzen für das Individuum und die Gesellschaft zu behandeln. Wir glauben, dass unser Buch umfassend diese Lebensphase beleuchtet und sowohl für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber auch Praktiker und Studierende einen sehr guten Überblick vermittelt.
Wir sind sehr froh und dankbar, für die einzelnen Themen exzellente Autorinnen und Autoren gefunden zu haben, die aus ihrer Expertenposition heraus den aktuellen internationalen Forschungsstand zum jeweiligen Thema präsentieren.
- Welche Herausforderungen haben Jugendliche heute zu bewältigen? Hat sich dies im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert?
Ein Großteil der Herausforderungen im Jugendalter ist für Jugendliche unterschiedlicher Generationen sehr ähnlich. Die Akzeptanz körperlicher Veränderungen oder das Finden des eigenen Platzes in der Gesellschaft sind nahezu zeitlose Entwicklungsaufgaben. Das war vor 4000 Jahren so und das ist heute immer noch der Fall.
Aber jede Generation hat auch spezifische Anforderungen zu bewältigen. Greifen wir den Umgang mit den sogenannten neuen Medien heraus. Der heutige Grad der sozialen Vernetzung und die Kommunikationsmöglichkeiten sind in keiner Weise mit denen früherer Generationen vergleichbar. Hier müssen die Jugendlichen z.B. mit Hilfe von Eltern oder Lehreinnen und Lehrern einen kompetenten aber auch kritischen Umgang entwickeln. Glücklicherweise gelingt das den allermeisten Jugendlichen sehr gut.
Ein anderes Beispiel ist die Veränderung vieler Gesellschaften in eine moderne Migrationsgesellschaft, ein Trend, der bereits einige Jahrzehnte in fast allen europäischen Ländern anhält. Jugendliche müssen heute lernen, erfolgreich mit kultureller und sozialer Diversität umzugehen. Dies betrifft zum einen die Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft (die ja kulturell oft auch nicht homogen ist), aber auch die zugewanderten Jugendlichen, die eine neue Sprache, neue Regeln und andere Lebensmöglichkeiten und -chancen sehen. Gleichzeitig sind sie aber auch mit den normativen Veränderungen des Jugendalters konfrontiert.
- In welchen Bereichen sehen Sie die größten Gefahren oder Entwicklungsrisiken?
Wir würden hier nicht eine Hitliste der Gefahren aufbauen wollen. Die Entwicklungspsychologie hat vor etlichen Jahren den Wechsel von einer Negativsicht des Jugendalters mit Fokus auf Delinquenz, Depressivität oder Substanzkonsum hin zu einer Sichtweise der positiven Entwicklung eingeleitet. Dabei werden die Stärken und Chancen des Jugendalters stärker betont – beispielsweise das gesellschaftliche Engagement, das Wohlbefinden oder die wachsende Verantwortungsübernahme.
In unserem Buch wird man diese positive Sichtweise an vielen Stellen wiederfinden. Die Befunde zeigen hier relativ deutlich, dass es wichtiger ist, Ressourcen, unterstützende Kontexte sowie deren Wirkungsweise zu verstehen, als aus einer Problemperspektive heraus das Jugendalter zu untersuchen.
Aber selbstverständlich gibt es in unserem Buch auch Kapitel, die problematische Entwicklungen und Entwicklungsrisiken im Jugendalter beleuchten. Diese Kapitel zeigen aber auch, dass die jeweilige Situation der Jugendlichen berücksichtigt werden muss. So lässt sich kaum eine generelle Rangreihe von Risiken erstellen.
- Wie unterstützt man als Eltern oder Lehrer jugendlichen Kinder auf dem Weg in ein eigenständiges Leben am besten?
Auch hier gibt es keine Patentrezepte. Wichtig ist es sicherlich erst einmal, diese wirklich spannende Lebensphase zu verstehen. Hier kann unser Buch sicher helfen. Im Umgang mit den Jugendlichen sind Verständnis, Geduld und das Gewähren von Freiräumen sehr wichtig, damit Jugendliche sich aktiv und selbständig in ihren jeweiligen Lebenssituationen mit den altersspezifischen Entwicklungsaufgaben auseinandersetzen können.
Zum anderen brauchen Jugendliche aber auch klar kommunizierte Regeln und Grenzen. Die Kombination aus beidem ist nach Erkenntnissen der Erziehungsstilforschung der beste Weg. Diese Regeln liefern den Jugendlichen einerseits einen Orientierungsrahmen der Erwartungen an sie und zum anderen die Möglichkeit diese Regeln herauszufordern.
Sicherlich dürfen Eltern sowie Lehrerin oder Lehrer nicht vergessen, dass Jugendliche zuweilen auch Hilfe benötigen. Damit Jugendliche diese Hilfe aktiv nachfragen, ist eine positive Beziehung eine notwendige Voraussetzung. Wie diese konkrete Hilfe dann aussieht, ist aber sehr von der individuellen Lebenssituation abhängig.
- Was kann oder muss unsere Gesellschaft für die Jugend von heute und morgen tun?
Diese Frage führt sehr weit, da eigentlich jedes der im Buch vorliegenden Kapitel Aussagen zur gesellschaftlichen Relevanz und den dazugehörigen Implikationen macht. Zudem unterscheiden sich die gesellschaftlichen Aufgaben – je nachdem, ob man nun die moralische Entwicklung, die interkulturellen Beziehungen, den beruflichen Werdegang oder auch Essstörungen ins Auge fasst.
Daher möchten wir hier in unserer Antwort eher beispielhaft auf ein Konzept der positiven Entwicklung zurückgreifen – den sogenannten „Developmental Assets“ (Assets bezeichnen so etwas wie Zutaten für eine gelingende Entwicklung). Peter Benson erarbeitete eine Liste von insgesamt 40 „Developmental Assets“, die vor allem kumulativ, also beim Vorhandensein möglichst vieler Assets, förderlich auf positive Entwicklungsergebnisse wirken (z. B. bessere Schulnoten oder mehr prosoziales Verhalten) und negative Entwicklungen reduzieren (z. B. weniger Risikoverhalten oder Gewalttätigkeit). Benson unterscheidet dabei internale und externale Assets, die gesellschaftlich gefördert werden sollten. Zu den internalen Assets zählen die Entwicklung einer positiven Identität (z. B. Selbstwert), positiver Werte (z. B. Wertschätzung von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit), sozialer Kompetenzen (z. B. interpersonale Kompetenzen wie Empathie) und Lernbereitschaft (z. B. Anstrengungsbereitschaft). Diese internalen Assets können durch soziale Aktivitäten und Lebenskompetenzprogramme gefördert werden. Zu den externalen Faktoren gehören Unterstützung (z. B. liebevolle und unterstützende Familienbeziehungen), Verantwortungsübernahme in Gemeinschaft (z. B. Erfahrung von Wertschätzung der Jugend durch kommunale Gemeinschaften), Grenzen und Erwartungen (z. B. klare Verhaltensregeln und Modellhandeln von Eltern, Lehrpersonen und Peers) sowie eine konstruktive Zeitnutzung (z. B. Aktivität in Sportvereinen). Um diese Assets zu stärken müssen Schulen und Kommunen vor allem Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe von Jugendlichen fördern.
Wir wollen aber nicht den Eindruck erwecken, als gäbe es hierzu keine Bestrebungen. Viele bestehende Ansätze der Jugendarbeit an Schulen und in Gemeinden sind bereits sehr erfolgreich im Stärken der Assets – wenn auch nicht immer direkt die Arbeit von Benson als Inspiration diente.
Vielen herzlichen Dank für das Interview!