Interview mit Peter Conzen zu
„Die bedrängte Seele. Identitätsprobleme in Zeiten der Verunsicherung“

Anlässlich des Erscheinens des Werkes „Die bedrängte Seele“ haben wir mit dem Autor Dr. Peter Conzen über Identitätsprobleme in Zeiten zunehmender Verunsicherung gesprochen.

Heute ist das Wort „Identität“ in aller Munde, ob kulturelle Identität, geschlechtliche Identität, ethnische Identität, corporate identity. Wie definieren Sie den Begriff?

Der Begriff „Identität“ stammt aus der Philosophie, implizierte ursprünglich höchste Exaktheit. Heute ist daraus vielfach ein schillerndes Modewort geworden, unter dem jeder etwas anderes versteht. Aus psychologischer Sicht ist Identität das Empfinden, ein kontinuierliches, gleichbleibendes Wesen, ein Ich zu sein, einmalig und unverwechselbar, und dennoch stets einer sozialen Umwelt, unterschiedlichen Gemeinschaften zugehörig. Es handelt sich im Alltagsleben eher um ein fließendes Gefühl, das unser Denken, Fühlen und Handeln selbstverständlich begleitet und nur in Ausnahmesituationen deutlicher bewusst wird. Wenn wir näher über uns nachdenken, uns fragen, wer wir sind, wie wir sein möchten oder in den Augen anderer erscheinen, wird deutlich, wie vielschichtig und zum Teil widersprüchlich unser Selbstbild ist. Es ist höchst unterschiedlich, welche Bereiche ihres Selbst Menschen als besonders zentral für ihr Identitätserleben empfinden – körperliche Spannkraft und Attraktivität, Familie, Freundschaft, Partnerschaft und Sexualität, Beruf, Interessen und Freizeitgewohnheiten, die ethnische, religiöse oder nationale Zugehörigkeit. Das macht den Identitätsbegriff so facettenreich und zugleich oftmals so vielfältig und schillernd.
In allem Wechsel und Wandel Zusammenhalt und Kontinuität unserer Persönlichkeit zu wahren, das eigene Selbst immer wieder in den verschiedensten gesellschaftlichen Sektoren zu verankern und zu behaupten, erfordert eine sehr komplexe, oft schwierige und konflikthafte „Identitätsarbeit“. Vor allzu statischen, quasi essentiell gedachten Definitionen ist von daher zu warnen. Identität ist keine einmalige Errungenschaft, kein unveränderlicher „Besitz“, sondern etwas, was sich lebenslang weiterentwickelt, etwas, worum wir stets kämpfen müssen, was unsicher werden, in die Krise geraten, im Extremfall ganz zersplittern kann.

Sie möchten in Ihrem Buch die Vielzahl von Identitätsproblemen und Identitätsstörungen deutlicher voneinander differenzieren. Was unterscheidet Identitätskrisen von „normalen“ Alltags- und Lebenskrisen?

Umschlag von "Die bedrängte Seele"Menschliches Dasein ist voller Konflikte und Enttäuschungen, und nicht alle Alltags- und Lebenskrisen sind sofort Identitätskrisen. Keineswegs möchte ich mit meiner Veröffentlichung für ein selbstmitleidiges Versinken in der Krise plädieren. Die Resilienzforschung, die positive Psychologie, die ressourcenorientierte Psychoanalyse haben eindrucksvoll herausgestellt, wie robust die Psyche vielfach selbst schwere Belastungssituationen und traumatische Erfahrungen zu verarbeiten vermag. Vieles, was heutzutage rasch mit Ausdrücken wie „Identitätskrise“ oder „Identitätsverwirrung“ versehen wird, ist meines Erachtens eher eine Identitätsverunsicherung. Von einer Identitätskrise sollte man erst sprechen, wenn einschneidende Veränderungen, Schicksalsschläge, Verluste, schwere Kränkungen, Überforderungen oder Erfahrungen andauernder Diskriminierung die Verarbeitungsmechanismen des Ich über Gebühr belasten. Im Unterschied zu „normalen“ Lebenskrisen wird in der Identitätskrise das Selbstverständnis und Selbstwertgefühl eines Menschen, sein Vertrauen in die Sicherheit und Kontinuität des Daseins massiver erschüttert. Der unvorhergesehene Verlust des Partners oder des Arbeitsplatzes, der Konkurs des eigenen Geschäfts, plötzliche Invalidität nach einem Schlaganfall, historische Katastrophen wie Krieg, Bürgerkrieg, Genozid, erzwungene Migration – der Einzelne muss sich in seiner gesamten Lebenssituation umorientieren, sein Selbstkonzept neu ordnen, wird dabei oft von Selbstzweifeln, Angst, Wut oder Misstrauen bedrängt, bis das Geschehen allmählich verarbeitet wird, am Ende womöglich die Persönlichkeit wachsen und reifen lässt. Ebenso lösen Krisen negative Entwicklungen aus, Resignation, Hoffnungslosigkeit, Groll, körperliche und seelische Erkrankungen, das Abgleiten in Devianz oder fundamentalistische Verhärtung.
Den Ausdruck „Identitätsverwirrung“ möchte ich nur für psychosenahe Ausnahmezustände reservieren, in denen das Gefühl seelischen Zusammenhanges und Zusammenhaltes sich momentweise oder über einen längeren Zeitraum auflöst, das Selbst- und Weltbild zu zersplittern droht. Die Identitätsverwirrung ist Folge von Erkrankungen, Intoxikationen, sich zuspitzenden psychopathologischen Symptomen oder schwerer Traumatisierung, tritt aber auch in Ausnahmesituationen des normalen Seelenlebens auf. Typisch für Krise und Verunsicherungen sind auch Phänomene der „Identitätsverengung“ oder „Identitätsverhärtung“. Es handelt sich um Haltungen der übervorsichtigen Defensive, des Rückzugs und der Einengung, der Verabsolutierung und Zementierung bestimmter Lebenseinstellungen, Überzeugungen oder Gefühlshaltungen zum Schutz vor tatsächlichen oder vermeintlichen inneren und äußeren Bedrohungen. Solche Identitätsstörungen finden sich in allen Formen privater und kollektiver Vorurteilsbildung, den symmetrisch eskalierenden sozialen Konflikten. Sie sind oftmals grundlegendes Symptom unterschiedlicher psychopathologischer Zustandsbilder und zeigen sich am erschreckendsten in fanatischen Persönlichkeitsentgleisungen.
Natürlich sind die genannten Phänomene schwer voneinander abzugrenzen, treten nebeneinander oder nacheinander auf, gehen ineinander über, wechseln einander ab. Man denke an das Durchlaufen einer schweren Krankheit. Am Anfang, beim Registrieren der ersten vagen Symptome, steht ein leises Unbehagen, ängstliche Gedanken, zunehmend in eine schleichende Verunsicherung übergehend. Die Diagnose bedeutet einen Schock, ein Betäubtsein, eine momentane Identitätsverwirrung. Es folgt eine längere Phase der Identitätskrise, Hoffen und Bangen, Phasen offensiver Auseinandersetzung und resignativer Verhärtung, schließlich, nach der Besserung oder gar Heilung, ein Gefühl der Erleichterung, eine Neubewertung der eigenen Lebenssituation. Dennoch bleibt eine schleichende Verunsicherung, ob die Symptome nicht erneut auftreten, man von der Krankheit nicht wieder eingeholt wird.

Wie könnte man beispielhaft Individuen der Postmoderne mit einer bedrängten Seele beschreiben?

Die „bedrängte Seele“ kommt heute in vielerlei Formen und Symptomen zum Ausdruck. Denken wir an die Zunahme von Depressionen und Burn-Out-Syndromen, zum Teil schon bei Jugendlichen. Alain Ehrenberg spricht vom „erschöpften Selbst“, Richard Sennett von der „Krise des flexiblen Menschen“. Man fühlt sich dem Druck zu Beschleunigung, Konkurrenz und Selbstoptimierung nicht mehr gewachsen. Man kann den eigenen überhöhten Idealen nicht mehr genügen, fürchtet den sozialen oder beruflichen Abstieg, stürzt sich noch mehr in die Arbeit, putscht sich womöglich mit Drogen und Medikamenten auf, um irgendwann zusammenzubrechen.
Oder denken wir an traumatisierte Menschen, die ständig von unaussprechlichen Erlebnissen bedrängt werden, an Flüchtlinge und Asylsuchende, die, ihres Status und ihrer Zugehörigkeit ungewiss, quasi in zwei Welten leben, an stigmatisierte Menschen, die unter einem Makel leiden, der sie tatsächlich oder vermeintlich in den Augen der Mehrheit diskreditiert.
Nach wie vor sind es Konflikte, Spannungen, Zerwürfnisse im zwischenmenschlichen Bereich, die als besonders identitätsgefährdend erlebt werden. Veränderte Lebensauffassungen und Werte, ungeahnte neue Formen des Kommunizierens in der digitalisierten Welt haben gerade die privaten Beziehungen in den letzten Jahren besonders starken Veränderungen unterworfen. Traditionelle Familienmodelle sind infrage gestellt, starre männliche und weibliche Rollenmuster haben sich aufgelöst, die Sexualität hat sich weitgehend von der Fortpflanzungsfunktion abgekoppelt, wird heutzutage ohne größere Skrupel in unterschiedlichen Formen und Beziehungsmustern gelebt. Das, was als Befreiung und Entkrampfung gefeiert wird, birgt mitunter neue Kompliziertheit in sich. Partnerschaftsprobleme – häufig verquickt mit Erziehungsschwierigkeiten und Familienkonflikten – sind heutzutage häufigster Anlass, sich in Beratung oder Therapie zu begeben, machen einen Großteil der „bedrängten Seele“ unserer Zeit aus. Mitunter erleben wir eigentümliche Spaltungen, Menschen, die im beruflichen Bereich höchst vernünftig und erfolgreich funktionieren und sich in ihren privaten Beziehungen gänzlich irrational in zunehmend hasserfüllte und bösartige Identitätskämpfe verstricken.

Leben wir heute in einer Welt, die schwierigere Herausforderungen an unsere Identitätsbildung stellt als in vergangenen Zeiten?

Eindeutig ja. In früheren Zeiten waren die Werte, Glaubenshaltungen, Erziehungsformen, Autoritäts- und Geschlechterverhältnisse sehr viel selbstverständlicher durch unhinterfragte Traditionen vorgegeben. In Zeiten der Globalisierung, Ökonomisierung und Virtualisierung muss der Einzelne zunehmend selber entscheiden, wie, mit wem, wofür er leben will, ist gezwungen, angesichts immer neuer Reize, Optionen, Rollen- und Sinnangebote, zunehmend auf eigene Faust seine Identität zu stricken. Nicht selten wird die Persönlichkeitsentwicklung zum dauernden Experimentieren, zum lebenslangen Projekt. Dies bringt ungeahnte Freiheitsgrade, neue Chancen der Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung mit sich und andererseits neue Formen von Krise, Leiden und Scheitern. Die Anforderungen und Kontexte sind so vielfältig und rasch wechselnd, das Individuum erlebt sich in so unterschiedlichen Aspekten und Schattierungen, dass es immer schwieriger wird, einen subjektiven Standpunkt, ein kohärentes Selbst aufrechtzuerhalten. Die pluralisierte – und nicht selten diffuse – Identität wird zu einer Art neuer Lebensstrategie. Man gibt sich in wechselnden Kontexten unterschiedlich, zieht, wie aus einem Werkzeugkasten, quasi die Module aus sich hervor, die gerade passend scheinen, wechselt mit erstaunlicher Elastizität seine Positionen und Meinungen – oft auf Kosten von Ehrlichkeit, Treue, Authentizität und Zuverlässigkeit.

Sie bezeichnen die Gegenwart in Ihrem Titel als „Zeit der Verunsicherung“. Worin zeigt sich die heutige allgemeine Verunsicherung und was sind ihre Ursachen?

In der Tat gilt in manchen Zeitdiagnosen die verunsicherte Identität als Kehrseite postmodernen Lebensgefühls und Erfolgsstrebens. Und vermutlich spiegelt das Dringliche, mit denen Individuen und Kollektive heutzutage um ihre Selbstvergewisserung kämpfen – die Diskussionen um „nationale Identitäten“, „Leitkulturen“, „corporate identities“ – ein Stückweit diese Verunsicherung wider, die Sehnsucht nach Eindeutigkeit in einer immer unüberschaubaren Welt. Die Chancen, etwas aus sich zu machen, angesehen und erfolgreich zu sein, sind heutzutage für viele Menschen größer geworden, aber die Freiheit zur Selbstentfaltung bekommt mitunter etwas Verpflichtendes, Überforderndes. Der verlässliche Ort und die ungefährdete Gemeinschaftsbindung sind, wie Richard Sennett sagt, abhandengekommen, man ist sich seiner Position nicht mehr gewiss, ruht nicht mehr in sich selbst. Die privaten Beziehungen erscheinen oberflächlicher, brüchiger, gefährdeter, auf existenzielle Fragen gibt es mit dem Verblassen religiöser Überzeugungen keine rechten Antworten mehr. Beruflich steht der „flexible Mensch“ unter einer Art Dauerbewährung. Wo die Ansprüche an Eigenverantwortung, Schnelligkeit und Selbstoptimierung steigen, wachsen auch Ängste, es nicht mehr zu schaffen, an den Rand gestellt, fehl am Platze zu sein.
Hinzu kommt das Bedrängende der derzeitigen Weltlage. Ökologische Bedrohungen, Finanzkrisen, das willkürliche Aufkündigen internationaler Kooperationen und Verträge, flagrante Verletzungen des Völkerrechts, der islamistische Terrorismus mit Auswüchsen nicht mehr für möglich gehaltener archaischer Gewalt, millionenfaches Flüchtlingselend – ein Klima der Verunsicherung untergräbt auch in wohlhabenden Ländern Lebensgefühle von Ausgeglichenheit und Zukunftsoptimismus.
Dies fördert in manchen Bevölkerungsschichten die Tendenz, Zuflucht und Halt wieder in kollektiven Identitäten zu suchen, sich ein- und abzugrenzen. Identität, eigentlich ein emanzipatorischer Begriff, der unterdrückten, unterprivilegierten Menschen Würde und Selbstachtung zurückgeben will, ist mittlerweile auch zum Modewort für völkisch-konservative und rechtspopulistische Bewegungen geworden. Und die derzeitigen, in Rassismus und Gewalt umschlagenden Abgrenzungskämpfe gegen Fremdes und Andersartiges spülen neue Unmenschlichkeit nach oben.

Zumindest in unserer Gesellschaft herrschen großer Wohlstand und Sicherheit. Uns geht es eigentlich gut; warum hilft das nicht gegen Identitätsprobleme und Verunsicherung?

In der Tat: Objektiv leben westliche Menschen nach wie vor in einem historisch ungeahnten Zustand des Wohlstandes und der Sicherheit. Aber dies schlägt sich vielfach nicht in einem subjektiven Sicherheitsgefühl nieder. Zu allen Zeiten war Menschsein mit Unvollkommenheit, Absurdität und Leid verbunden, und angesichts der Schrecken und Exzesse der Geschichte mutet manches Problem heutiger Selbstfindungsseminare nahezu idyllisch an. Freilich wäre das durchschnittliche Individuum vergangener Epochen kaum auf den Gedanken gekommen, seine Leiden oder Zweifel als „Identitätskrise“ zu deklarieren. Bis weit in die Neuzeit lebte das Gros der Menschen in den festen Banden unhinterfragter ständischer und religiöser Ordnungen, galten Schicksalsschläge, Unheil oder Krankheit abergläubisch als Einfluss von Dämonen, als Prüfung oder Strafe Gottes. Zugenommen hat eindeutig der Trend, die eigene Befindlichkeit, das eigene Unwohlsein vermehrt zu hinterfragen. Was früher im Alltagsleben als Verstimmung, Gefühlslabilität, Reizbarkeit eher vage empfunden und abgetan wurde, wird heute sehr viel häufiger in psychologischen Begrifflichkeiten reflektiert, eher Beratern und Therapeuten vorgetragen, dort diagnostiziert und in entsprechenden Settings bearbeitet. Insofern ist unter anderem die Identitätskrise zu einem Begriff geworden für etwas, was viele in ihrem Leben nachempfinden können, steht die Arbeit an den Unvollkommenheiten, Gegensätzlichkeiten und Brüchen im eigenen Selbst immer häufiger, wie Inge Seiffge-Krenke es formuliert, unter dem „Therapieziel Identität“.

Was kann man gegen diese Verunsicherung durch die Umstände der heutigen Welt tun?

Es geht heute um die Stärkung eines Ich, das in der Lage ist, mit Offenheit und Vielfalt zu leben, das mutig und offensiv mit seinem Schicksal umgeht in einer gänzlich veränderten digitalisierten und globalisierten Welt. Eine starke, kohärente Identität ist nach wie vor für jeden Menschen etwas absolut Notwendiges und erster Garant seelischer Gesundheit. Damit ist nicht eine geschlossene pseudoharmonische Sicht der Welt gemeint. Kohärenz kann, wie Heiner Keupp sagt, auch eine offene Struktur haben. Entscheidend ist, dass dies für das Subjekt selbst eine authentische Gestalt hat.
Zu solch innerer Souveränität zu gelangen ist eine anspruchsvolle, nicht im Alleingang zu bewältigende Aufgabe, erfordert ein hohes Maß an Ich-Stärke und Ambiguitätstoleranz. Mehr denn je bedarf es für den Einzelnen grundlegender sozialer Stützung, Anerkennung und Einbindung, müssen elementare materielle, ökonomische und bildungsmäßige Voraussetzungen gegeben sein. Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Diskriminierung und Rassismus – viele Identitätsprobleme rühren überwiegend aus realen gesellschaftlichen Ungleichheiten und Konflikten her und dürfen nicht fälschlich dem Individuum als quasi schuldhaftes Versagen angelastet werden. Es gilt, die Ressourcen und kreativen Potenziale des Ich anzusprechen, sich nicht entmutigen zu lassen, ohne den zunehmenden Trend zu Vermassung, Kommerzialisierung und oberflächlicher Ich-Sucht zu verharmlosen, geschweige denn die enormen Risiken, das Bedrohliche der derzeitigen Weltlage zu verleugnen.
Das „empowerment“, die Stärkung individueller Kritik- und Widerstandsfähigkeit, muss mehr denn je zur zentralen Aufgabe von Pädagogik, Kulturarbeit und Bildungspolitik werden. Alle Identität wurzelt im Urvertrauen des Kindes, in einer liebenden, ermutigenden und konsequenten Erziehung. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Kinder zu frühreifen Spezialisten getrimmt werden, Jugendliche sich gänzlich in den virtuellen Welten des Internet verlieren, zunehmend standardisierte Schul- und Ausbildungswege nicht mehr über den Tellerrand blicken lassen. Der Mensch darf nicht zur Marionette seiner eigenen Artefakte werden, zum bloßen Rollenbündel, Datenaggregat oder Konsumfetischisten.
In allem ehrlichen Bemühen um Identitätsstärkung geht es letztlich um die Weiterführung abendländischer Ideen von Freiheit, Mündigkeit und Selbstbestimmung, um demokratische Werte, die es, angesichts der weltweiten Zunahme an Populismus, Autoritarismus und Rechtsextremismus, unbedingt zu verteidigen gilt, ohne sie von heute auf morgen anderen Kulturen aufzwingen zu wollen. Dazu gilt es, Wesen und Ursache von Identitätsproblemen konsequent weiter zu erforschen, Einfluss auf das öffentliche Bewusstsein, auf politische Entscheidungen zu nehmen, rechtzeitig kritischen Situationen vorzugreifen, bevor Konflikte zwischen Menschen und Gruppen sich in verhängnisvoller Weise zu Glaubenskämpfen aller Art verhärten.

Bieten die Veränderungen und Umbrüche in unserer Gegenwart auch Chancen für die Bildung der eigenen Identität?

Absolut. Noch nie war der Spielraum, sein Dasein eigenständig zu gestalten, sich auch in späteren Lebensphasen persönlich noch um- und neu zu orientieren, so groß wie gegenwärtig. Von einer generellen sozialen Kälte, einem grundlegenden Verlust an Fürsorge und generativer Verantwortung kann so nicht die Rede sein. Noch nie hatten Kinder so viele Rechte, genossen so viel Aufmerksamkeit. Noch nie gab es ein so breites Netzwerk an Hilfsmöglichkeiten, an Beratungsangeboten und Selbsthilfegruppen für Erwachsene, Kinder und Jugendliche, für Eltern und Famiien.
Es scheint, als würden wir im Kommunitarismus so etwas wie die Rückbesinnung auf die Gemeinschaftsfähigkeit und -bedürftigkeit des Menschen erleben. Einfallsreich entstehen Initiativen und soziale Netzwerke, werden alle Möglichkeiten der Moderne zur unbürokratischen Unterstützung und gegenseitigen Hilfeleistung genutzt. In der Tat: Gerade die Techniken, die uns in alptraumhafter Weise kontrollieren, hegen auch ungeahnte Chancen zur Solidarisierung in sich, zum Widerstand gegen Korruption und angemaßte Macht. Der weltweite Informations- und Warenaustausch vermittelt uns ein Gefühl für die bereichernde Vielfalt kultureller Systeme und den Wert von Heterogenität. Durch die Internationalisierung und Hybridisierung von Identitäten wachsen Chancen zu produktivem Wissensaustausch und unvoreingenommener Kooperation von Menschen unterschiedlicher Herkunft – zu Gunsten der bestmöglichen Nutzung vorhandener Ressourcen. Gerade im Unkomplizierten der internationalen Kontaktsuche Heranwachsender zeigt sich in ganz hoffnungsvoller Weise die Vision einer solidarischen Weltgemeinschaft.

Warum nutzen Sie die Psychoanalyse, um Identitätsproblematiken zu ergründen? Wie kann sie uns heute noch helfen?

Ich glaube, die verschiedenen Schulen der Psychoanalyse sind nach wie vor sowohl für die Identitätsforschung wie für die Therapie von Identitätsproblemen unverzichtbar. Von Anfang an stand bekanntlich die Selbstreflexion im Zentrum der psychoanalytischen Behandlung, galt die Selbsterkenntnis als der eigentlich heilende Faktor. Von Anfang an hat die Psychoanalyse andererseits herausgestellt, wie begrenzt, lückenhaft, widersprüchlich unser Selbstbild ist, wie sehr wir uns überschätzen, wie viel an Widersprüchlichkeit, Spaltung, geheimer Verrücktheit es schon im normalen Seelenleben gibt, wie wenig unser Ich, wie Freud es einmal formuliert hat, „Herr im eigenen Haus ist“.
Generell geht es in Beratung und Psychotherapie heute immer mehr um ein Umgehen mit Identitätsproblemen, um Anleitung in konkreten Fragen der Partnerschaft, Erziehung und beruflichen Orientierung. Auch die Psychoanalyse hat Abstand genommen von autoritären Haltungen der Abstinenz und kryptischen Deutung, ist mehr bemüht um Zustimmung, stützende Begleitung des Patienten im Hier und Jetzt. Bei alldem muss die Psychoanalyse an ihrer grundlegend aufklärerischen Funktion der Verteidigung des Individuums festhalten – nicht zuletzt gegen das potenziell Überfordernde und Krankmachende postmoderner Flexibilitätsanforderungen. Es kann nicht um die schnelle Lösung gehen, das rasche Symptombeseitigen und erneute Fitmachen für den Wettbewerb. Auch bei den zunehmend „gehetzten Patienten“ bedarf es nach wie vor Zeit, um zu einem tieferen Verständnis Ihres Leidens zu gelangen, die inneren Ambivalenzen und Wahrnehmungstäuschungen durchzuarbeiten, all die Gefahren der Regression und des vereinfachenden Denkens bewusst zu machen. Erst aus der konsequenten Erinnerung, so eine zentrale Einsicht der Psychoanalyse, wächst Humanität.

Wir danken Ihnen sehr für das Interview, Ihre Zeit und Mühe.

Das Interview führte Elisabeth Selch.

Fachbereich(e): Psychoanalyse, Psychologie. Schlagwort(e) , , , , , . Diese Seite als Lesezeichen hinzufügen.