Anlässlich des Erscheinens des Werkes „Stalking – Opferhilfe, Täterintervention, Strafverfolgung“ haben wir mit dem Autor Wolf Ortiz-Müller über das Phänomen Stalking gesprochen.
Der Psychologe und Psychologische Psychotherapeut ist einer der führenden Stalking-Experten in Deutschland. Vor sechs Jahren gründete er die Beratungsstelle „Stop Stalking“ in Berlin, die sowohl stalkenden Personen, als auch betroffenen Opfern Hilfe anbietet.
Der Begriff „Stalking“ ist in den letzten Jahren sehr populär geworden – was genau versteht man darunter?
Stalking ist das beharrliche Nachstellen gegenüber einer Person, mit dem Ziel, sie in eine Beziehung zu zwingen bzw. sie nicht aus einer Beziehung gehen zu lassen – gegen deren erklärten Willen. Innerpsychisch stellt Stalking eine gedankliche und emotionale Fixierung auf einen Menschen dar, die sich im Verhalten manifestiert.
Warum beginnen Personen mit Stalking?
Menschen, die stalken, kommen mit einer Zurückweisung, die sie erfahren haben, nicht klar. Egal, ob eine Liebesbeziehung vorausging oder ob die Beziehung kollegial, freundschaftlich oder auch nur fantasiert war, fällt es Stalker*innen nicht leicht, loszulassen. Die meisten sind leicht kränkbar und haben nicht genügend Selbstbewusstsein, sich vorzustellen, dass sie auch mit einem anderen Menschen glücklich werden können.
Gibt es „präventive“ Möglichkeiten, bereits potentielle Täter oder Täterinnen vom Stalking abzuhalten?
Stalker*innen sind Wiederholungstäter*innen, d.h. jede psychotherapeutische Beratung kann helfen, das aktuelle und ein potentiell in der Zukunft wieder auftretendes Stalking einzuschränken. Dies wäre sogenannte Sekundärprävention. Primarprävention würde bedeuten, die Sensibilisierung für das uralte Phänomen, das sich jedoch in Zeiten der sozialen Medien und der Vielfalt der Beziehungs- und Trennungskonstellationen verändert hat, zu fördern. Auch Fachleute in helfenden Berufen sind vielfach noch nicht ausreichend vertraut, um Stalking zu erkennen und auf Seiten der Betroffenen wie auch der stalkenden Menschen zu intervenieren.
Was denken Sie, worunter Betroffene von Stalking am meisten leiden?
Unter der Wiederholung, dem scheinbar Nicht-aufhören der Kontaktaufnahmen. Im Gegensatz zu anderen „einmaligen“ Straftaten ist Stalking ein sich 100fach und 1000fach wiederholendes Grenzüberschreiten, das zermürbt, hilflos macht und häufig mit Angst verbunden ist. Wenn man sich nicht mehr selbstwirksam, sondern ausgeliefert fühlt, geht viel Lebensqualität verloren – dies betrifft die gesamte Persönlichkeit.
Sie selbst sind Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, in Ihrem Buch kommen jedoch auch Vertreter und Vertreterinnen der Pädagogik, Medizin, Polizei sowie aus dem juristischen Bereich zu Wort. Warum ist eine Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Perspektiven in der Diskussion zum Thema Stalking so wichtig?
Keine Profession darf der Hybris unterliegen, sie allein würde Stalking wirksam eindämmen. Nachstellung stellt zum Glück seit zehn Jahren eine Straftat dar, doch Strafverfolgung greift viel zu kurz, um Stalker*innen nachhaltig davon abzubringen. Daher sind die psychosoziale und therapeutische Perspektive, manchmal auch das psychiatrische Vorgehen so wichtig, um in der Konsequenz die Betroffenen zu schützen, aber auch den Täter*innen wieder ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Im Februar 2017 wurde eine Neufassung des Nachstellungsgesetzes § 238 StGB vom Bundesrat verabschiedet – welche Änderungen gehen mit dem neuen Gesetzesentwurf einher?
Bisher musste das Opfer den Nachweis antreten, dass die stalkende Person ihre Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt hat, z.B., indem es den Arbeitsplatz wechselte oder nur noch mit Begleitschutz aus dem Haus ging. Betroffene, die sich dem widersetzten, waren im Zwiespalt, damit die Strafverfolgung der Täter*innen zu erschweren. Mit der Umwandlung vom „Erfolgsdelikt“ in ein „Eignungsdelikt“ soll künftig das Tatverhalten und nicht mehr die Reaktion des Opfers für die Strafbemessung ausschlaggebend sein.
Wenn Sie zum Schluss eine persönliche Frage erlauben: Waren Sie selbst oder jemand in Ihrem Familien- und Freundeskreis Opfer von Stalking?
Als Psychotherapeut und somit Angehöriger der helfenden Berufe, gehöre ich zu einer Hochrisikogruppe im Hinblick darauf, gestalkt zu werden. Wenn wir Menschen behandeln, die an einer Beziehungsstörung leiden, laufen wir auch Gefahr, selbst zum Objekt einer problematischen Beziehungsgestaltung zu werden, z. B. wenn Patient*innen uns idealisieren, sich in uns verlieben und nicht loslassen können. Oder auch, wenn sie verärgert sind, von uns schlecht behandelt worden zu sein, und in der Folge auf ihre Kränkung durch Stalking aufmerksam machen wollen. Beides bleibt im Therapeutenberuf leider nicht aus!
Welchen Rat würden Sie einem Stalking-Opfer geben, das Sie um Hilfe bittet?
Klarheit und eindeutige Abgrenzung sind der erste Schritt. Dorthin muss man aber innerlich erst einmal gelangen, denn viele haben auch noch einen Rest positiver Gefühle für die „armen“ Ex-Partner*innen oder sogar Schuldgefühle. In der Folge muss jedes Stalkingverhalten dokumentiert werden, ob per SMS, Emails etc. oder durch bewusst herbeigeführte Begegnungen. Das ist die Grundlage für eine mögliche Strafverfolgung. Dieser sollte jedoch eine professionelle Stalkingberatung vorausgehen, um das Risiko und den Sinn einer Strafanzeige beurteilen zu können. Dort werden individuelle Schutzmaßnahmen besprochen und Möglichkeiten der Selbstfürsorge entwickelt, denn oftmals gelingt es nicht, das Stalking binnen Kürze „abzustellen“.
Wir danken Ihnen sehr für das Interview, Ihre Zeit und Mühe.
Das Interview führten Annika Grupp und Elisabeth Selch.
Weiterführende Links zum Thema:
Beitrag „Besserer Schutz für Stalkingopfer“ in ZDF Mona Lisa vom 25. März 2017
Artikel „Stalkingkonferenz: Weitere Hilfen für Opfer gefordert “ in der Süddeutschen Zeitung vom 4. April 2017
Artikel „Stalking – Wenn Kränkung in Hass umschlägt“ in der Welt vom 03. April 2017
„SWR1 Leute – Um Kopf und Kragen“ mit Wolf Ortiz-Müller vom 14. Januar 2014