Kinder im Autismus-Spektrum verstehen und unterstützen

Ein Wahrnehmungswegweiser für Eltern und Begleitende

 

Menschen im Autismus-Spektrum haben eine ganz besondere Wahr­nehmung. Sie erleben viele Situa­tionen und Impulse im Alltag „anders“ und zeigen folg­lich andere oder auch besondere Reaktionen.
Wie man als Eltern und Begleit­personen damit umgehen kann und welche Möglichkeiten der Unterstützung sich im Alltag umsetzen lassen, erläutert unsere Autorin Ulrike Funke im Interview exemplarisch am Thema „Essen und Trinken“.

Portrait von Ulrike Funke
Ulrike Funke

Frau Funke, können Sie an einem Beispiel aufzeigen, wie sich die besondere Wahr­nehmung von Kindern im Autismus-Spektrum auf ihren Alltag und den ihres Umfeldes auswirkt?

Essen und Trinken ist für die meisten Menschen etwas Positives, ein entspannender Punkt im Tagesablauf. Für Betroffene aus dem Autismus-Spektrum ist jedoch jede Mahlzeit eine Heraus­forderung. Unter­schiedliche Geschmäcker, Ober­flächen, Gerüche, aber auch die erforder­liche Koordination beim Kauen und Schlucken ist durch die besondere Wahr­nehmung eine anspruchs­volle und zum Teil über­fordernde Aktivität. Einige Informationen werden besonders intensiv, andere kaum gespürt, das Zusammen­spiel dieser verwirrt zusätzlich. In Folge dessen wird Essen verweigert, die Kinder springen ständig vom Stuhl auf oder laufen durch den Raum. Dieses Verhalten hat nichts mit Erziehung, Macht­kämpfen oder Unlust zu tun, sondern ist die logische Konsequenz aus der Über­forderung, aus der ganz anderen Wahr­nehmung der Kinder.

Wie lässt sich solch eine Situation von Eltern und Begleit­personen meistern?

Das Verstehen, wie einzelne Informationen in Bezug auf Geschmack, Konsis­tenzen oder Temperatur in der Essens­situation wahr­genommen werden, kann helfen, das Angebot zu verbessern: Eine stark gewürzte Speise oder ein gekühltes Mittag­essen macht das Essen im Mund besser spürbar. Ein zusätz­liches Bewegungs­angebot vor, während oder auch nach der Mahlzeit kann die Anspannung vermindern. Dann wird es auch möglich Neues zu lernen, z. B. vermehrt zu kauen, neue Lebens­mittel zu probieren oder länger am Tisch zu verbleiben, um Familien­zeit erlebbar zu machen.

Autismus - bei Kohlhammer

In Ihrem Buch verzichten Sie zum großen Teil auf reiz­vermei­dende Hilfe­stellungen. Warum?

Alltag ist reizvoll und unberechen­bar, die unterschiedlichen Reize können oft nicht vermieden werden; es sei denn in einem reizarmen Raum. Daher sollte den Kindern ermög­licht werden, dass ihre Reiz­verarbeitung sich verändern kann. Es braucht also andere Hilfen, um Inter­aktion lebendig und freudvoll zu erleben, um Freund­schaften zu ermöglichen, aber auch um alltägliche Heraus­forderungen wie einen Arzt­besuch meistern zu können. Es ist wichtig, die Regulations­fähigkeiten zu stärken und die Belastungen der Wahr­nehmungs­besonder­heiten zu vermindern. Individuelle Hilfen in Bezug auf die individuelle Wahr­nehmung erleichtern den Besuch von Kinder­garten, Schule oder anderen Einrichtungen, stärken den Familien­alltag und die Lebens­qualität. Viele Betroffene zeigen bereits selbst­stimulierende und somit für sie entspannende Verhaltens­weisen. Wenn wir lernen, diese positiv zu nutzen oder zu lenken, werden gemeinsame Freude und wechsel­seitiger Austausch möglich.

Ulrike Funke
Kinder im Autismus-Spektrum verstehen und unterstützen
Ein Wahrnehmungswegweiser für Eltern und Begleitende

2022. 181 Seiten mit 10 Abb. und 2 Tab. Kart.
€ 32,–
ISBN 978-3-17-041826-4

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