Frau Funke, können Sie an einem Beispiel aufzeigen, wie sich die besondere Wahrnehmung von Kindern im Autismus-Spektrum auf ihren Alltag und den ihres Umfeldes auswirkt?
Essen und Trinken ist für die meisten Menschen etwas Positives, ein entspannender Punkt im Tagesablauf. Für Betroffene aus dem Autismus-Spektrum ist jedoch jede Mahlzeit eine Herausforderung. Unterschiedliche Geschmäcker, Oberflächen, Gerüche, aber auch die erforderliche Koordination beim Kauen und Schlucken ist durch die besondere Wahrnehmung eine anspruchsvolle und zum Teil überfordernde Aktivität. Einige Informationen werden besonders intensiv, andere kaum gespürt, das Zusammenspiel dieser verwirrt zusätzlich. In Folge dessen wird Essen verweigert, die Kinder springen ständig vom Stuhl auf oder laufen durch den Raum. Dieses Verhalten hat nichts mit Erziehung, Machtkämpfen oder Unlust zu tun, sondern ist die logische Konsequenz aus der Überforderung, aus der ganz anderen Wahrnehmung der Kinder.
Wie lässt sich solch eine Situation von Eltern und Begleitpersonen meistern?
Das Verstehen, wie einzelne Informationen in Bezug auf Geschmack, Konsistenzen oder Temperatur in der Essenssituation wahrgenommen werden, kann helfen, das Angebot zu verbessern: Eine stark gewürzte Speise oder ein gekühltes Mittagessen macht das Essen im Mund besser spürbar. Ein zusätzliches Bewegungsangebot vor, während oder auch nach der Mahlzeit kann die Anspannung vermindern. Dann wird es auch möglich Neues zu lernen, z. B. vermehrt zu kauen, neue Lebensmittel zu probieren oder länger am Tisch zu verbleiben, um Familienzeit erlebbar zu machen.
In Ihrem Buch verzichten Sie zum großen Teil auf reizvermeidende Hilfestellungen. Warum?
Alltag ist reizvoll und unberechenbar, die unterschiedlichen Reize können oft nicht vermieden werden; es sei denn in einem reizarmen Raum. Daher sollte den Kindern ermöglicht werden, dass ihre Reizverarbeitung sich verändern kann. Es braucht also andere Hilfen, um Interaktion lebendig und freudvoll zu erleben, um Freundschaften zu ermöglichen, aber auch um alltägliche Herausforderungen wie einen Arztbesuch meistern zu können. Es ist wichtig, die Regulationsfähigkeiten zu stärken und die Belastungen der Wahrnehmungsbesonderheiten zu vermindern. Individuelle Hilfen in Bezug auf die individuelle Wahrnehmung erleichtern den Besuch von Kindergarten, Schule oder anderen Einrichtungen, stärken den Familienalltag und die Lebensqualität. Viele Betroffene zeigen bereits selbststimulierende und somit für sie entspannende Verhaltensweisen. Wenn wir lernen, diese positiv zu nutzen oder zu lenken, werden gemeinsame Freude und wechselseitiger Austausch möglich.
Ulrike Funke
Kinder im Autismus-Spektrum verstehen und unterstützen
Ein Wahrnehmungswegweiser für Eltern und Begleitende
2022. 181 Seiten mit 10 Abb. und 2 Tab. Kart.
€ 32,–
ISBN 978-3-17-041826-4
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