Anlässlich des Erscheinens des Werkes „Kompetenzmanual Autismus (KOMMA)“ führten wir mit der Autorin Inez Maus das folgende schriftliche Interview:
- Wie entstand die Idee zum Kompetenzmanual Autismus, kurz KOMMA?
Die Frage lässt sich im Rückblick so beantworten, dass es drei Stufen der Entwicklung gab.
Mein autistischer Sohn Benjamin wechselte in der Grundschulzeit auf unsere Initiative als Eltern von einem Förderzentrum mit dem Schwerpunkt „Körperlich-motorische Entwicklung“ in eine Regelschule, die nie zuvor einen autistischen Schüler aufgenommen hatte. Ich stellte mir die Aufgabe, den Pädagog*innen hilfreiche Informationen zum Umgang mit den Besonderheiten meines Sohnes zu liefern, welche ich dann für verschiedene Fächer, Situationen und Aktionen in Listen zusammenstellte.
Einige Jahre später folgte die zweite Stufe. Inzwischen gab ich meine Erfahrungen mit und mein Wissen über Autismus nicht nur an die Lehrer*innen und Betreuenden meines Sohnes, sondern in diversen Fortbildungen auch an Vertreter*innen verschiedener Berufsgruppen weiter. In meinen Fortbildungen setzte ich bereits Vorläufer der Bearbeitungsbögen des KOMMAs ein, die sich wachsender Beliebtheit erfreuten.
Die häufig an mich herangetragene Bitte, nicht Musterbögen auszuteilen, sondern ein Material bereitzustellen, welches alle alltagsrelevanten Besonderheiten für den Umgang mit (einem) autistischen Menschen erfasst, führte dann zur dritten Stufe, die darin bestand, nicht nur dieses Material zu erstellen, sondern diesem sogleich das nötige Hintergrund- und Praxiswissen hinzuzufügen. An dieser Stelle möchte ich dem Verlag für das kreative Produktdesign danken. Die Bearbeitungsbögen, die sich im Buch als Kopiervorlagen befinden, können auch separat in einer digitalen, farbigen Version erworben werden.
Hinweise zu den Arbeitsmaterialien
Die Bearbeitungsbögen des KOMMA sind auch als digitale Version (E‑Book PDF) erhältlich. ISBN 978-3-17-038602-0 – Jetzt bestellen!
- An wen richtet sich das KOMMA bzw. für wen wurde es konzipiert?
Das KOMMA richtet sich an Personen, die beruflich entweder mit autistischen Kindern und Jugendlichen oder mit Erwachsenen, die einen hohen Unterstützungsbedarf haben, arbeiten. Konzipiert wurde es für all jene Menschen, die ich in meinen Fortbildungen kennenlerne, wie bspw. Lehrer*innen, Erzieher*innen, Schulhelfer*innen, Einzelfallhelfer*innen, Therapeut*innen (die nicht auf Autismus spezialisiert sind), Mitarbeitende von Wohnstätten, Werkstätten oder Freizeiteinrichtungen.
Da das Manual einen Einstieg in das Thema Autismus bietet und umfangreiche Hinweise zum alltäglichen Handeln beim Umgang mit den anvertrauten Menschen liefert, werden auch Quer- und Seiteneinsteiger*innen, die in vielen Bereichen wie Kita, Schule oder Wohneinrichtungen arbeiten, davon profitieren.
Das KOMMA eignet sich ebenso für Familienangehörige, die herausfinden möchten, welche autismustypischen Besonderheiten bei ihrem Kind zu finden sind. Möglichkeiten zum Umgang mit diesen Besonderheiten können sie darin für sich oder andere Personen in ihrer Umgebung festhalten. Der Prototyp des KOMMAs hat bei meinem eigenen Sohn maßgeblich dazu beigetragen, dass er die Schule mit Erfolg abschließen konnte.
- Mit welchen Herausforderungen sehen sich betreuende Personen in der Arbeit mit Menschen mit Autismus konfrontiert?
Autismus wird diagnostiziert, wenn von einer Vielzahl an Symptomen, die die Bereiche Wahrnehmung, Denken, Kommunikation, Sozialverhalten und repetitive Handlungen betreffen, eine Mindestanzahl bei der untersuchten Person vorgefunden wird. Das bedeutet, dass es keine Symptome oder Merkmale gibt, die auf jeden Menschen mit Autismus zutreffen (müssen). Das bedeutet in der Praxis, dass etwas, was dem einen guttut oder hilft, sein Leben zu meistern, beim anderen vielleicht nicht funktioniert oder das Gegenteil bewirkt. Hilfen und unterstützende Maßnahmen müssen daher exakt auf die individuellen Besonderheiten zugeschnitten sein, um Früchte tragen zu können.
- Inwieweit kann das KOMMA hier helfen?
Was sind die Ziele, wo liegen die Einsatzmöglichkeiten?
Vor Kurzem fragte mich eine Mitarbeiterin, die in einer Wohngruppe mit acht autistischen Menschen arbeitet, am Ende einer Fortbildung: „Wie soll ich mir das denn für alle Bewohner merken, wenn jeder andere Besonderheiten hat. Und wie mache ich das dann den Kollegen klar?“
Genau in einer derartigen Situation, die in anderen Arbeitsumfeldern ebenso auftritt, kann das KOMMA helfen, indem es ermöglicht, die Besonderheiten jedes Einzelnen und den optimalen Umgang damit zu erfassen. Das gemeinsame Nutzen des jeweiligen KOMMAs macht „das dann den Kollegen klar“.
Ein sorgfältig angelegtes KOMMA führt dazu, dass die Lebens-, Lern- und/oder Arbeitsbedingungen des betreuten Menschen mit Autismus bestmöglich gestaltet werden können. Es verhindert, dass nutzlose oder schädliche Maßnahmen etabliert werden. Und es hilft, Stärken aufzuspüren und zu fördern, was letztendlich die Selbstständigkeit und damit das Wohlbefinden steigert.
Die Bearbeitungsbögen zum KOMMA können individuell zusammengestellt werden, wodurch es praktisch überall, wo Menschen mit Autismus jeglichen Alters unterstützt oder begleitet werden, eingesetzt werden kann.
- Sie sind selbst Mutter eines autistischen Sohns. Was raten Sie Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen, z.B. weil bei ihrem eigenen Kind Autismus diagnostiziert wird?
Prinzipiell empfehle ich Menschen, die sich mit dem Thema Autismus beschäftigen, dass sie Informationen von verschiedenen Seiten einholen: von Eltern oder Angehörigen, von unterschiedlichen Fachleuten und von autistischen Menschen. Jede dieser Gruppen vermittelt eine andere Sicht auf das Thema, und erst die Zusammenführung der verschiedenen Sichten ergibt ein stimmiges Bild dieses so vielschichtigen Phänomens.
In zahlreichen Gesprächen mit Eltern im Laufe der Jahre erfuhr ich, dass Eltern sich oft, nachdem bei ihrem Kind Autismus diagnostiziert wurde, entweder mit der Diagnose allein gelassen oder in bestimmte Fördermaßnahmen gedrängt fühlen, ohne dass sie darüber informiert wurden, welche Maßnahmen ebenso infrage gekommen wären. In beiden Fällen rate ich den Eltern, sich schrittweise mit dem Thema vertraut zu machen, verschiedene Sichtweisen oder Standpunkte anzuhören bzw. anzulesen und sich dann genügend Zeit zu nehmen, um ihren eigenen Weg zum Umgang mit dem Thema Autismus zu finden. Dazu gehört die Frage, ob und wie das Umfeld aufgeklärt wird, ebenso wie Entscheidungen, die die gesamte Familie betreffen. Angebotene oder geforderte Maßnahmen, egal welcher Art, sollten Eltern stets hinterfragen, bevor sie diese umsetzen oder ihre Einwilligung geben. Letztendlich sind es die Eltern, die besondere, den Lebensweg beeinflussende Entscheidungen für ihr autistisches Kind treffen müssen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man gerade kurz nach Stellung der Diagnose sehr schnell in Handlungszwang gerät – sowohl selbst auferlegtem als auch von außen herangetragenem. Ich weiß auch, wie unendlich schwer es ist, eine Maßnahme abzulehnen, weil sie nicht zum eigenen Kind oder zur familiären Situation passt. In vielen Fällen scheint es so, dass immer noch das regionale Angebot oder andere Faktoren, aber nicht die Individualität des Autismus des jeweiligen Kindes über die Förderung entscheidet.
Zur familiären Situation können Geschwisterkinder gehören. Diesen Eltern empfehle ich, die Geschwisterkinder nicht erst, wenn sich schwierige Situationen häufen, sehr genau im Blick zu behalten, sondern von Beginn an. Familiäre Nachteilsausgleiche, die ich in meinem Buch „Geschwister von Kindern mit Autismus“ beschreibe, helfen Geschwistern, mit der Situation zurechtzukommen.
Eltern, die gerade die Autismus-Diagnose ihres Kindes erhalten haben, reagieren darauf meist entweder geschockt oder erleichtert. Mein Sohn erhielt die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ erst nach einem sechs Jahre andauernden Ärztemarathon. Unser Umfeld erwartete an diesem Punkt von uns, dass wir nun erleichtert sind und tatkräftig nach vorn schauen. Tatkräftig war ich, erleichtert nicht. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich die Diagnose verarbeitet hatte und dann auch wieder nach vorn schauen konnte. Eltern möchte ich daher auf ihren Weg mitgeben, dass es keine richtige oder falsche Reaktion auf die Diagnose gibt und dass die erste Reaktion sich im Laufe der Zeit wandeln kann.
- Im Manual finden sich immer wieder Beispiele oder Zitate von Ihrem autistischen Sohn Benjamin. Was hält Benjamin von Ihrem neuen Buch?
Das ist eine Frage, zu der man sehr viel sagen könnte. Und das Viel, das man dazu sagen könnte, hat zu einer neuen Projektidee geführt.
Die Antwort lässt sich aber mit einem Zitat meines Sohnes aus dem Buch auf den Punkt bringen: „Wissen zu finden bedeutet auch, sich selbst zu finden.“ Die Gespräche über die Themen des Buches haben uns beiden geholfen, ein weiteres (oder anderes?) Stück unseres jeweiligen Selbst zu finden.
Die erwähnten, im Buch befindlichen Zitate meines Sohnes und die Alltagsbeispiele aus unserem Leben habe ich selbstverständlich mit Benjamin während des Schreibens und nach Fertigstellung des Manuskriptes besprochen. Sein erster Kommentar zum Manual lautete: „Oh, das ist aber eine verdammt gute Idee!“
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Mühe!