Narzissmus
Grundlagen – Formen – Interventionen

Prof. Marc Walter und Dr. Oliver Bilke-Hentsch im Gespräch über ihr neues Buch.

Die beiden Autoren erweitern in ihrem Werk die Perspektive um wenig diskutierte Aspekte narzisstischer Phänomene und Störungsbilder wie die individuelle Entwicklung über die Lebensspanne, Gender- sowie transkulturelle Aspekte und gehen auf positive wie negative Seiten des Narzissmus ein.

Neu!

Marc Walter / Oliver Bilke-Hentsch
Narzissmus
Grundlagen – Formen – Interventionen

2020. 175 Seiten mit 11 Abb. und 11 Tab.
€ 32,–
ISBN 978-3-17-034214-9

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Ihr Werk stellt eine Rundumschau der zahlreichen Facetten narzisstischer Phänomene dar. Woher kam die Idee bzw. die Motivation für diese Umsetzung?

Portrait von Marc Walter
Marc Walter

Walter: Narzissmus ist in aller Munde. Es wird in den Medien diskutiert, ob und welcher Politiker und Sportler eine narzisstische Störung hat, von Trump über Bolsonaro bis Erdogan. Die Selbstdarstellungen auf Facebook und Instagram sind für mich befremdlich, meine Kinder finden das aber toll, was mich noch mehr wundert. Ist das alles schon eine narzisstische Pathologie? Obwohl ich mich immer für das Thema interessiert habe, wusste ich gar nicht mehr, was der Begriff eigentlich im Kern meint. Oliver Bilke-Hentsch und ich hatten vor etwa zwei Jahren ein spannendes Gespräch darüber, in Winterthur. Da kann ich mich noch erinnern, dass diese Problematik in therapeutischen Zusammenhängen fast immer nur negativ dargestellt wird. So kamen wir auf die Idee ein Buch darüber zu schreiben, oder Oliver, weißt du noch genau, wie das war?
Bilke-Hentsch: Wir kamen über Mechanismen ins Gespräch, die den Selbstwert scheinbar stabilisieren, Drogen z. B. oder Verhaltenssüchte. Und sprachen über ADHS– oder Legasthenie-Patienten, die über Jahre individuelle Strategien entwickeln, um mit ihrer Störung zurechtzukommen, das geht nur mit gesundem Narzissmus.

Welche Aspekte beleuchtet Ihr Buch neu?

Walter: Wir haben die Entwicklung des Begriffs „narzisstisch“ von seinen Anfängen bei Freud bis hin zur modernen Psychotherapieforschung beschrieben, aber ganz neu sind die psychotherapeutisch orientierten Kapitel über Narzissmus in der Gesellschaft und in der individuellen Entwicklung bis ins hohe Alter. Auch gibt es bislang keine ausführliche Würdigung des „vulnerablen Narzissmus“, der erst seit einigen Jahren untersucht wird, der häufig in der Klinik und Praxis anzutreffen ist, und der meist nicht richtig erkannt und behandelt wird. Und wir wollten die Therapie des pathologischen Narzissmus ausführlich darstellen, und nicht nur die Theorien beschreiben.
Bilke-Hentsch: Der Entwicklungs- und Transitionsaspekt beschäftigt uns beide seit Jahren, da lag es nah, die Lebenszeitperspektive darzustellen, zumal, wenn es sich um eine Störung handelt, die in Kindheit und Jugend beginnt.

Wen möchten Sie mit diesem Buch besonders ansprechen?

Walter/Bilke-Hentsch: Natürlich Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen, aber auch ärztliche Kolleg*innen in der Klinik und Praxis, die mit narzisstischen Personen zu tun haben. Wir wollten ein verständliches und gut strukturiertes Buch schreiben, das sich auch an Fachpersonen in Beratungsstellen und an interessierte Laien richtet, die sich über das Phänomen wissenschaftlich fundiert informieren möchten. In erster Linie ist es aber ein Fachbuch.

Portrait von Oliver Bilke-Hentsch
Oliver Bilke-Hentsch

Wann ist eine Person „narzisstisch“ und ab wann wird dies zu einem psychischen Problem?

Walter/Bilke-Hentsch: Narzisstisch können erstmal alle Personen sein, die andere immer als „narzisstisch“ bezeichnen. Jeder ist ja mehr oder weniger narzisstisch, im Sinne eines Spektrums. Das ist zwar verkürzt, aber: Entwertung anderer und Neid auf andere sind auch typische Merkmale einer narzisstischen Störung. Wir nehmen an, dass schwere Probleme der Selbstregulation und des Selbstwertgefühls sowie Störungen in der Beziehungsgestaltung charakteristisch für eine narzisstische Störung sind. Wenn dann die Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung erfüllt sind, der pathologische Narzissmus also ausgesprochen stark ausgeprägt ist, führen diese Störungen des Selbst und der Beziehungen zu erheblichen Beeinträchtigungen der psychischen Befindlichkeit bei sich selbst und bei anderen. Im Jugendalter kommt noch hinzu, dass Kränkbarkeiten, wechselndes Selbstwertgefühl und Abwertung anderer zu dieser Entwicklungsphase häufig dazugehören, da ist die Differenzialdiagnose schwer.

Lässt sich das immer so gut von anderen Persönlichkeitsausprägungen und Persönlichkeitsstörungen abgrenzen?

Walter/Bilke-Hentsch: Selbstwertprobleme und Beziehungsstörungen gibt es auch bei anderen Persönlichkeitsstörungen und neurotischen Anpassungsstörungen. Zentral bei narzisstischen Störungen sind das Kränkungserleben, die mangelnde Empathie und die Entwertung anderer Personen. Und dies als durchgehendes und wenig variables Phänomen, das besonders in Krisenzeiten hervortritt.

Wie hat sich die psychiatrische Klassifikation narzisstischer Störungen entwickelt?

Walter: Nach den theoretischen Arbeiten von Kohut und Kernberg in den 1970er Jahren wurde die narzisstische Persönlichkeitsstörung 1980 in das amerikanische Klassifikationssystem psychischer Störungen DSM-III aufgenommen, wo sie bis heute aktuell geblieben ist. Im ICD-11 der WHO wird der Begriff als solcher voraussichtlich nicht mehr auftauchen. Das hängt wahrscheinlich auch mit der Schwierigkeit zusammen, die narzisstische Pathologie sicher von dem „normalen Narzissmus“ unserer Gesellschaften abzugrenzen, vielleicht auch damit, dass viele Persönlichkeiten, die unsere Gesellschaft prägen und mittragen, selbst narzisstische Schwierigkeiten und Pathologien haben. Zudem gab es in den letzten Jahren leider nur wenige wissenschaftliche Studien in diesem Bereich. Narzisstische Störungen werden deshalb aber sicher nicht verschwinden – wir werden sie dann einfach anders nennen und klassifizieren.

Nimmt Narzissmus zu? Warum gibt es immer mehr Narzissten?

Walter/Bilke-Hentsch: Die Gesellschaft ist bestimmt narzisstischer geworden, mit dem Trend zur Individualisierung, Selbstverwirklichung und zur dauernden Selbstdarstellung. Was früher als „eitel“ oder „selbstverliebt“ bezeichnet wurde, ist heute normal geworden und wird bewundert. Psychische Probleme sind mittlerweile immer auch zumindest teilweise „narzisstisch“. Die schweren narzisstischen Störungen im engeren Sinn nehmen deshalb aber nicht automatisch zu. Zumindest gibt es keine empirischen Befunde, die eine solche Aussage aktuell stützen würden.

Psychische Störungen sind auch immer ein Phänomen im Spiegel der Zeit. Inwiefern lässt sich das auch für Narzissmus und narzisstische Störungen sagen?

Bilke-Hentsch: In Gesellschafts- und Wirtschaftsleben der letzten 20 Jahre geht es zunehmend um Emotionalisierung und interessante Erfahrungswerte, weniger um Besitz oder Grundversorgung. Es zählt stärker das Darstellbare, das Herzeigbare, das Präsentable. Wenn die Grundbedürfnisse alle gedeckt sind und scheinbar nicht bedroht sind (die aktuelle Corona-Krise dürfte hier manches relativieren), dann sind Symbole des Reichtums, der Gesundheit oder der guten Laune von hoher Bedeutung. Die Angst vor Verlust, die Angst vor Abwertung, die Angst vor emotionaler Abkopplung vom Mainstream erzeugen eine Kränkbarkeit und Irritabilität, die narzisstische Phänomene wahrscheinlicher macht. Die Rolle der sozialen Medien, aber auch des kompetitiven Arbeitslebens sind hierfür von höchster Bedeutung.

Warum gilt der Narzissmus als gesellschaftlicher Trend, als „Leitneurose unserer Zeit“?

Bilke-Hentsch: Die Arbeit am Äußeren, an der Oberfläche, am sofort Sichtbaren – und deren Fragilität – bestimmt in vielen Lebensbereichen die Interaktionen. Wenn Form wichtiger als Inhalt ist, wenn Berühmtheit bei sogenannten Celebrities aus sich selbst heraus entsteht und nicht aus Verdiensten oder Leistungen, dann kann diese ebenso schnell wieder entzogen wie erworben werden. Die gesellschaftliche Fragilität und Fragmentierung und der gleichzeitig tiefe individuelle Wunsch nach bedingungsloser Anerkennung und „ozeanischer Liebe“ stehen hier in starkem Widerspruch. Es geht nicht mehr so sehr wie in früheren Generationen um unterdrückte Sexualität, zwanghaft gebundene Aggressivität, sondern um eine radikale Akzeptanz jeglicher Emotionalität. Wenn aktuelles Befinden und laienhafte Meinung wichtiger werden als fundierte Analyse und langfristige seelische Verfassung, dann werden Individuen, Gemeinschaften und letztlich die Gesellschaft kränkbarer und irritierbarer. Interessanterweise sind viele soziologische und sozialtheoretische Ansätze der letzten 20 Jahre mit diesen Fragestellungen verbunden.

Sind wir alle ein bisschen narzisstisch?

Walter: Klar, wir beide besonders, sonst hätten wir das Buch gar nicht geschrieben … (lacht). Aber wir haben sicher keine narzisstische Persönlichkeitsstörung, sonst hätten wir gar nicht so intensiv zusammen daran arbeiten können.
Bilke-Hentsch: Wenn wir narzisstische Phänomene ähnlich wie andere psychische Störungen im weitesten Sinne als Spektrum-Störung auffassen, dann gibt es einerseits einen kontinuierlichen Übergang von harmlosem Alltagsnarzissmus geringster Ausprägung bis hin zu schwersten, mit sozialer Interaktion kaum vereinbaren Störungen. Es stellt sich auch beim Narzissmus-Spektrum die Frage der Kontinuität gegenüber Phasenübergängen und selbstverständlich dann auch der Umkehrbarkeit von narzisstischen Prozessen. Dass Macht und Reichtum psychisch korrumpieren können, ist seit der Antike bekannt, dass sozialer Abstieg oder die Angst davor Kränkbarkeit erhöht, ebenso. Interessant ist, ob wir auf narzisstisches Denken und Erleben in Krisen- und Belastungszeiten und erst recht bei Verlusten und Traumatisierungen zu Gunsten eines sachlicheren und rationaleren Denk- und Erlebensstils verzichten können oder ob eben diese sich dann so verstärken, dass eine Realitätsverzerrung stattfindet. In diesem Sinne sind wir alle ein bisschen narzisstisch, nur eben nicht immer.

Welche Rolle spielen soziale Medien?

Bilke-Hentsch: Seit der in Marktbringung des Smartphones im Jahre 2007 sind die für die seelische Entwicklung ungünstigen dauernden Vergleiche, Rankings und Listungen allgegenwärtig. Was im Sport schon lange akzeptiert wurde, nämlich die Definition, dass beispielsweise ein Skifahrer mit 2 Hundertstel Sekunden dann „nur der Vierte“ beim Weltcup ist, wurde in atemberaubender Geschwindigkeit auf alle möglichen Alltagsfragestellungen übertragen. Aus vielen Langzeitstudien, aber auch aus der klinischen Erfahrung ist bekannt, dass Vergleiche fast immer die Depressivität erhöhen, die Irritabilität verstärken und Verlustängste triggern. Auch die schlagartige und teilweise höchst brutale und gleichzeitig höchst persönliche Entwertungsmaschinerie gewisser sozialer Medien trägt zu Kränkungserleben bei. Insbesondere Konsumentinnen sozialer Medien sind hier gefährdet.

Welche Unterschiede gibt es zwischen narzisstischen Männern und narzisstischen Frauen?

Walter: Eigentlich gar keine. Bei den meisten Männern wird der Narzissmus aber eher gesehen. Bei vielen Frauen ist der Narzissmus vielleicht noch eher „versteckt“, mehr „vulnerabel“ und weniger offen „grandios“ ausgebildet; diese Unterschiede dürften sich aber vermutlich in den nächsten Jahren weiter aufheben.
Bilke-Hentsch: Vermutlich werden auch heute noch narzisstisch agierende und im Einzelfall auch schwer gestörte Frauen stärker dem hysterischen Formenkreis zugeordnet. Auch diese Diagnose ist schon mit dem Wechsel von der ICD-9 zu ICD-10 theoretisch weniger fundiert bzw. faktisch verschwunden. Die Phänomene bestehen selbstverständlich weiterhin und insbesondere bei jüngeren Frauen ist differenzialdiagnostisch zwecks Psychotherapieplanung klar zwischen der „guten alten hysterischen Neurose“ und der narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu unterscheiden. Phänomenologisch mögen diese sich in einzelnen Situationen stark ähneln, meist ist aber das Aggressionsniveau bei narzisstischen Störungen höher. Die psychodynamischen Kernmechanismen dürften die gleichen sein.

Wie verändert sich die narzisstische Problematik über die Lebensspanne?

Bilke-Hentsch: Dieser Thematik sind wir in vielen Diskussionen und Textversionen nachgegangen. Bedauerlicherweise gibt es unter entwicklungspsychiatrischem Aspekt eher wenig Literatur zum Thema Narzissmus, was auch daran liegen mag, dass die Persönlichkeitsstörungen als solche erst in den letzten Jahren für das Jugendalter und zum Teil auch für das Kindesalter konzeptualisiert wurden. Noch bis vor 10 Jahren galt, dass schwere Persönlichkeitsstörungen zwar einerseits vor dem 18. Lebensjahr beginnen sollen, andererseits aber möglichst nicht diagnostiziert werden sollen. Dieses Paradox hat dazu geführt, dass auch Forschungsinstrumente kaum entwickelt wurden, die klinische Typologie und Klassifikation zurückgeblieben ist und man sich auf Grundsatzdiskussionen verstiegen hat. Einzelnen Autorinnen wie Paulina Kernberg ist es aber gelungen, schon frühzeitig auch bei entsprechend auffälligen Kindern sehr klar narzisstische Phänomene zu beschreiben und vor allem der Therapie zugänglich zu machen. Es geht ja insbesondere bei Kindern und Jugendlichen nicht darum, zu stigmatisieren und zu klassifizieren, sondern Entwicklungshindernisse zu beseitigen bzw. Copingmechanismen zu verbessern. Konzepte wie „der narzisstische Säugling“ haben heute eher psychotherapiehistorischen Charakter. Insbesondere unter dem schon erwähnten Einfluss der sozialen Medien, die die Entwicklung von Generation Z (geboren ab 2000) massiv bestimmen, dürfte aber die allgemeine Narzissmusbereitschaft in der Gesellschaft zunehmen und sich damit auch über die Entwicklungsphasen darstellen. Der Pubertät und Adoleszenz kommt hierbei eine Schlüssel- und Scharnierfunktion zu.
Interessant waren für uns auch Überlegungen zum Narzissmus im hohen Alter. Während vielerlei psychische Störungen im hohen Alter erst neu entstehen bzw. sich deutlich verringern, gehen wir bei den narzisstischen Störungen von einem gewissen Kontinuum aus, das sich allerdings je nach Lebenssituation und auch Arbeitssituation sowie familiärer Lage unterschiedlich darstellt. Auch hier sind es die Transitionspunkte wie beispielsweise die Pensionierung, die bei narzisstischen Persönlichkeiten schwerere Krisen als bei der Durchschnittsbevölkerung hervorrufen. Auch die Alterssuizide – eine der wenigen empirisch untersuchten Bereiche – dürften in diesem Kontext eine Rolle spielen.
Walter: Im Unterschied zu Patient*innen mit antisozialer oder Borderline-Persönlichkeitsstörung, die vor allem auch Schwierigkeiten in der Steuerung ihrer Impulse aufweisen und deshalb im Verlauf des Lebens weniger Probleme damit haben werden, weil sie insgesamt ruhiger werden, bleibt der pathologische Narzissmus bei Erwachsenen bis ins hohe Alter stabil, er zeigt sich dann nur in anderen typischen Konflikten mit der Umwelt.

Wie wird eine narzisstische Störung behandelt?

Walter: Für eine schwere narzisstische Störung gibt es sehr gute evidenzbasierte Psychotherapien, wie die übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP), die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) oder die Schematherapie, die auch bei Patient*innen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung erfolgreich eingesetzt werden. Wenn die narzisstische Störung etwas weniger stark ausgeprägt ist, gibt es modifizierte Vorgehensweisen, die vor allem zu Beginn der Therapie immer den empathischen Beziehungsaufbau und die vorsichtige und balancierte Konfrontation der narzisstischen Abwehr beinhalten sollte.

Was möchten Sie den Leserinnen und Lesern noch mitgeben, bevor sie Ihr Buch aufschlagen?

Walter: Es gibt narzisstische Phänomene, die interessant sind, und die, wenn sie stark ausgeprägt sind, zu viel Leiden der Betroffenen führen. Narzisstische Patient*innen haben immer auch besondere Talente und Eigenschaften, und ihnen ist meist auch gut zu helfen, wenn nur einige Besonderheiten in der Therapie beachtet werden.

Vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe!

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