Was sind die Besonderheiten des von Ihnen als „Psychosomatik 4.0“ bezeichneten Modells?
„Psychosomatik 4.0“ stand in dem 6-jährigen VorbereitungsÂzeitraum unseres Buchs für den Beginn einer neuen wissenÂschaftlichen EntwicklungsÂphase der Psychosomatik.
Bezogen auf die drei vorausÂgegangenen Phasen – die psychoÂanalytische, die verhaltensÂmedizinische („bio-behaviorale“) und die psychoÂphysiologische – stellt diese 4. Phase in vielerlei Hinsicht mit ihrer Verankerung in der neuroÂbiologischen, aber auch in anderen Bereichen der medizinischen und psychologischen GrundlagenÂforschung geradezu einen ParadigmenÂwechsel dar, der in der Praxis bisher noch wenig angekommen ist.
Welches Ziel verfolgen Sie mit diesem Buch und wen möchten Sie damit ansprechen?
Wie immer bei Hand- und Lehrbüchern geht es um eine BestandsÂaufnahme des aktuellen Wissens im jeweiligen Fachgebiet sowie die Erkennung von ForschungsÂdesideraten. Da wir wissen, dass sich viele Kolleginnen und Kollegen im Bereich von Psychosomatik und Psychotherapie, die zu Beginn ihrer teilweise langjährigen beruflichen WeiterÂbildung durch die theoretischen Konzepte von Psychotherapie-Schulen geprägt wurden, mit einer grundlegend neuen Sicht von psychoÂsomatischen Erkrankungen nicht leicht tun werden, richtet sich das Buch in erster Linie an jene, die noch am Beginn ihrer Weiterbildung stehen, und jene, die für die Ausgestaltung deren Weiterbildung verantwortlich sind.
Was bedeutet das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell für die Psychosomatische Medizin der Zukunft?
Das bio-psycho-soziale KrankheitsÂmodell war zunächst eine theoretische Konzeption, die sich aus klinischen Beobachtungen ableitete. In den letzten 20 Jahren ist das Modell durch die Grundlagenforschung empirisch sehr gut belegt worden. Damit hat die Psychosomatik eine solide wissenÂschaftliche Fundierung bekommen – auch wenn noch nicht alles, was unter Psychosomatik firmiert, dem immer gerecht wird. Aber genau das soll sich durch die Inhalte des Buchs künftig ändern. Dies gilt ganz besonders für die Therapie. Durch ein differenÂzierteres Verständnis der EntstehungsÂmechanismen können künftig bio-psycho-soziale TherapieÂkonzepte für einzelne KrankheitsÂbilder gezielter entwickelt werden.
In wieweit verändert sich das Arzt-Patient-Verhältnis durch ein bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis?
Das bio-psycho-soziale KrankheitsÂverständnis impliziert eine Veränderung der ärztlichen Rolle: im bio-medizinischen Modell ist der Arzt – vergleichbar mit einem naturÂwissenÂschaftlichen Forscher – in der Rolle des distanzierten Beobachters, der vor dem Hintergrund seines Wissens um biologische KrankheitsÂmechanismen („Ätio-Pathogenese“) die BeschwerdeÂschilderungen des Patienten, seine körperlichen UntersuchungsÂbefunde sowie die technisch-apparativ gewonnenen chemischen und physikalischen Befunde miteinander in Verbindung setzt, um sie zu bewerten und zu klassifizieren. Die Erweiterung der InformationsÂgewinnung um die psychosoziale Dimension, d.h. die individuellen KontextÂfaktoren und das emotionale Erleben des Patienten vor dem Hintergrund seiner biografischen Prägungen, verändern auch die Rolle des distanzierten Beobachters: affektive Faktoren nehmen Einfluss auf die Beziehung, subjektives Erleben ist in das ärztliche RollenÂverhalten zu integrieren – und idealerweise für Diagnostik und Therapie zu nutzen. Dieser „patientenÂzentrierte“ Ansatz führt im Vergleich zum „krankheitsÂzentrierten“ des bio-medizinischen Modells auch zu einer erheblichen Verringerung der Asymmetrie in der Arzt-Patient-Beziehung. Dies schlägt sich in einer zunehmenden Reflexion über die Rolle eines Arztes im interÂpersonellen Geschehen wie auch in der partizipativen EntscheidungsÂfindung nieder.
Sie thematisieren im Band auch die Frage nach dem allgemeinen Verständnis von „Gesundheit“ und „Krankheit“ – wie unterscheidet sich der psychoÂsomatische Blick auf diese Bereiche?
Die salutogenetisch wirksamen Ressourcen des Patienten können im bio-psycho-sozialen Verständnis von Krankheit und Gesundheit viel besser berücksichtigt werden, was für die Prävention konkrete Ansatzpunkte liefert und gerade bei der steigenden Zahl chronischer Erkrankungen für rehabilitative Maßnahmen besonders bedeutsam ist.
Noch eine letzte Frage: Was möchten Sie Ihren LeseÂrinnen und Lesern mitgeben, bevor sie das Buch zum ersten Mal aufschlagen?
Seien Sie neugierig, versuchen Sie tradierte Vorstellungsmodelle von PsychoÂtherapieÂschulen zur PsychoÂsomatik beiseite zu legen und lassen Sie sich auf die „neue“ PsychoÂsomatik ein!
Vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe!
Egle/Heim/Strauß/von Känel (Hrsg.)
Psychosomatik
Neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert
Ein Lehr- und Handbuch
2020. 860 Seiten mit 113 Abb. und 70 Tab. Fester Einband
€ 149,–
ISBN 978-3-17-030663-9
Bleiben Sie auf dem Laufenden –
Abonnieren Sie den Kohlhammer Newsletter