Was hat Sie dazu bewogen, sich auf den Bereich der Gerontopsychologie zu spezialisieren?
Ein Zitat des damaligen Direktors des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Paul Baltes, den ich in einem Seminar während meines Studiums in Dresden gehört habe: „Altern ist Entwicklung.“ Dieses Leitprinzip der Lebensspannenpsychologie entspricht auch meiner therapeutischen Haltung.
Was unterscheidet die psychotherapeutische Arbeit mit (sehr) alten Menschen von der therapeutischen Arbeit mit Erwachsenen, die in der Mitte ihres Lebens stehen?
Es bedarf keiner eigenen spezifischen „Alterspsychotherapie“. In meinem Buch spreche ich von einem alterssensiblen therapeutischen Vorgehen. Das chronologische Alter eines Patienten ist nur eines von vielen Merkmalen, die für die Therapie relevant sind.
Zur groben Orientierung definiere ich sechs Punkte fĂĽr die psychotherapeutische Arbeit mit alten und sehr alten Menschen:
1. Aktive Rolle der Psychotherapeutin
2. Fokussetzung
3. Ressourcenorientierung
4. Berücksichtigung biografischer Prägungen
5. Einbezug des sozialen Systems
6. Interprofessionelle Zusammenarbeit
Wieso besteht Ihrer Meinung nach das Vorurteil, dass Psychotherapie im Alter nicht wirksam sei?
Privat und beruflich sammeln wir wenig intergenerationelle Erfahrungen außerhalb der eigenen Familie. Außerdem ist Gerontopsychologie in der Aus- und Weiterbildung immer noch absolut unterrepräsentiert. Deshalb haben Psychotherapeut*innen oft nicht nur wenig Kompetenzen, sondern auch wenig Zuversicht in die eigene Behandlungskompetenz bei dieser Patient*innengruppe. Außerdem löst Alter aufgrund seiner Assoziation mit Tod und Vergänglichkeit schnell Ängste vor dem eigenen Altern und dem von nahestehenden Menschen aus.
Wie stark ist das Thema „Psychotherapie im Alter“ im Versorgungsalltag bereits angekommen, ist das Gesundheitssystem überhaupt bereits darauf eingestellt?
Insgesamt kann man von einer erheblichen Unterversorgung älterer Menschen sprechen, bei Hochaltrigen sogar von einer faktischen „Nicht-Versorgung“. Neben einem stark verbreiteten therapeutischen Pessimismus seitens von Hausärzt*innen und anderen Gatekeepern besteht eine wichtige Zugangsbarriere darin, dass das Gesundheitssystem in Deutschland kaum auf die psychotherapeutische Versorgung sehr alter, multimorbider und immobiler Menschen eingestellt ist und beispielweise aufsuchende Psychotherapie in der Versorgungsrealität absolute Ausnahmen darstellen. Die Behandlungsmotivation der aktuellen Generation alter Menschen ist nachweislich höher als gemeinhin angenommen wird, auch wenn ihre aktive Nachfrage danach eher gering ausfällt.
Wie beurteilen Sie die Chancen, das Thema zukünftig in Deutschland schon im Rahmen des Studiums stärker zu verankern?
Es ist positiv zu bewerten, dass im neuen Masterstudium Psychotherapie „Ältere“ explizit als bedeutsame Zielgruppe neben Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen benannt werden. Es ist dringend geboten, in der aktuell anstehenden Ausgestaltung der Weiterbildungsordnung, die in der Kompetenz der Bundesländer bzw. der
Psychotherapeutenkammern liegt, Gerontopsychologie als Fachgebiet angemessen zu berĂĽcksichtigen.
Was ist die Besonderheit Ihres Buches und worin unterscheidet es sich zur bereits veröffentlichten Literatur zu dieser Thematik?
In dem Buch gebe ich einen anschaulichen Überblick über ein breites Spektrum evidenzbasierter psychotherapeutischer Verfahren und Methoden für die Patient*innengruppe. Dazu gehören unter anderem die Lebensrückblicktherapie und die Kognitive Stimulationstherapie, die in Deutschland beide noch sehr wenig bekannt sind. Anhand von vielen konkreten Therapiesituationen beschreibe ich transdiagnostische und verfahrensübergreifende Leitprinzipien für eine positive therapeutische Rollengestaltung in der Arbeit mit alten und sehr alten Patient*innen.
Noch eine letzte Frage: Was möchten Sie dem Leser mitgeben, bevor er Ihr Buch aufschlägt und liest?
In unserer „Gesellschaft des längeren Lebens“ wird der Bedarf an Psychotherapeut*innen, die ältere Patient*innen behandeln, weiter zunehmen. Die Babyboomer-Generation, die in Kürze das Rentenalter erreicht, wird diesen Trend verstärken. Psychotherapeut*innen, die sich für die Arbeit mit alten Patient*innen entscheiden, bietet sich die bereichernde Chance, zeitgeschichtliches Wissen unmittelbar zu erfahren und sich mit einer Lebensphase zu beschäftigen, die ihnen selbst noch bevorsteht.
Vielen Dank fĂĽr Ihre Zeit und MĂĽhe!
Eva-Marie Kessler
Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen
2021. 176 Seiten. Kart.
€ 32,–
ISBN 978-3-17-035114-1
Aus der Reihe: Psychotherapie kompakt
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