Anlässlich des Erscheinens des Buches „Tausend Tode und ein Leben“ hat der Münchner Merkur mit der Autorin Constanze Winter ein ausführliches Interview geführt, von dem wir einen Auszug mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen dürfen.
Interview mit einem Missbrauchsopfer
„Er hatte keine Angst, entdeckt zu werden“
Im Interview spricht Winter, die im Raum München wohnt, über das, was ihr angetan worden ist und erklärt, warum sie das Buch geschrieben hat.
Frau Winter, Sie sagen, Ihre Mutter hat Sie Ihrem Großonkel ausgeliefert.
Ja. Meine Mutter war sehr stark kriegstraumatisiert und mit ihrem Alltag heillos überfordert. Mein Vater hat viel gearbeitet. Mein Großonkel ist auch meiner Mutter hinterhergestiegen. Sie hat sich eingeschlossen und mich seiner „Obhut“ ausgeliefert. Nie hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil in der Gesellschaft die Meinung verbreitet war, dass Kinder ja angeblich vergessen.
Wie ist Ihr Großonkel überhaupt an Sie rangekommen? Hat er bei Ihnen gewohnt?
Wir lebten in beengten Verhältnissen, zu viert auf 60 Quadratmetern. Mein Großonkel und meine Großtante haben unten gewohnt und wir oben. Mein Großonkel war schon in Rente. Wie alt er war, weiß ich nicht, in meiner Erinnerung war er immer uralt.
Hat seine Frau nichts bemerkt?
Doch, in der Rückschau ist mir klar: Sie wusste es. Dass mein Großonkel ein Missbraucher war, war allen Frauen in der Familie klar. Aber keine hätte es jemals zugegeben. Wahrscheinlich hat er auch seine eigene Tochter missbraucht, später dann seine Enkelin. Diese Strukturen gab es in verdammt vielen Familien und es gibt sie leider auch heute noch. Der Psychologe Hartmut Kraft erklärt die Nachkriegszeit so: Ich habe nichts gehört, nichts gesehen und nichts zu sagen. Die Angehörigen schauen weg und reden sich ein, dass die kleinen Mädchen selbst Schuld sind.
Hat ihr Großonkel Sie zu Hause missbraucht, wenn Sie alleine waren?
Nein, nicht nur. Er hatte keine Angst davor, entdeckt zu werden. Die Täter bauen ein Vertrauensverhältnis zum Umfeld auf. Deshalb können sie sich sicher fühlen. Mein Onkel ging zum Beispiel mit mir zum Bieseln ins Gebüsch…
Er hat Sie zehn Jahre lang missbraucht. Trotzdem haben Sie ihn geliebt.
Ja. Und damit bin ich kein Einzelfall. Ich war ein Kind, das ohne feste Bindung aufgewachsen ist. Und er hat sich sehr um mich gekümmert. Kinder brauchen eine Bindung, um zu überleben. Ich habe dafür einen hohen Preis gezahlt. Als Erwachsener fragt man sich dann natürlich: Was war denn da mit mir los – und schämt sich zu Tode.
Wie hörte das Ganze dann auf?
Ich hatte lange das Gefühl, ich hätte den Missbrauch selbst beendet. Aber das stimmt nicht. Ich war über zehn Jahre alt und erzählte ihm, dass eine meiner Freundinnen ihre Periode bekommen hatte. Er hatte vielleicht Angst vor einer Schwangerschaft. Wahrscheinlich war ich ihm zu alt – und er hatte inzwischen eine Enkelin.
Und dann?
Ich hatte es wirklich ganz und gar vergessen. Amnesie kann ja auch Teil des Trauma-Erlebnisses sein. Hätten Sie mich mit 16 Jahren gefragt, ich hätte gesagt, es ist nie etwas passiert. Ich war zwischen 11 und 16 sehr nett zu ihm, und er war nett zu mir. Ich habe das Trauma aus meinem Alltag verbannt, sonst kann man nicht überleben. Ich war ein gut funktionierendes System. Bis zu dem Zeitpunkt, wo es nicht mehr ging.
…
Das komplette Interview finden Sie auf der Webseite des Münchner Merkur unter diesem Link.
Das Gespräch führte Stefanie Wegele, Münchner Merkur | Foto: Klaus Haag, Münchner Merkur
Am Mittwoch, den 9. September liest Constanze Winter ab 11 Uhr in der Seidlvilla (Nikolaiplatz 1) aus ihrem Buch. Am 10. November findet in der Lehmanns Media Buchhandlung (Pettenkoferstraße 18) eine weitere Lesung statt. Detaillierte Informationen werden an dieser Stelle rechtzeitig bekannt gegeben.
Das Buch von Constanze Winter können Sie als Print- oder E-Book-Version in unserem Webshop erwerben.