Zwischen den Welten – Jihadistische Mütter mit ihren Kindern in Deutschland und in Syrien

Anlässlich der Veröffent­lichung ihrer Habilitations­schrift „The Young Sahaba“ über die Sozia­lisation von Kindern und Jugend­lichen im jihadis­tischen Milieu führten wir ein Inter­view mit der Autorin, der Religions­wissen­schaftlerin PD Dr. Nina Käsehage. Darin beleuchten wir einer­seits die Inhalte wie Umstände ihrer Forschung, und anderer­seits erkun­den wir darüber hinaus­gehende aktuelle wie gesell­schafts­relevante Themen.

Portrait von PD Dr. Nina Käsehage
PD Dr. Nina Käsehage
(Foto: picturepeople)

Wie sind Sie auf das Themenfeld Islamis­mus/Jihadismus aufmerksam geworden und wann haben Sie begonnen, in diesem Feld wissen­schaftlich zu forschen?

Durch meine Interviews mit nam­haften deutschen Sala­fisten wie Sven Lau und Pierre Vogel, die ich im Rahmen meiner Studie zu deutschen Konver­titInnen zum Islam im Jahr 2011 zu ihren Motiv­lagen zur religiösen Kon­version befragte, kam ich erstmals persön­lich in Kontakt mit Salafisten. Hieraus ergaben sich Kontakte in die deutsche salafistische und weiter­führend in die euro­päische radikal-islamische Szene, so dass ich in Deutsch­land und acht euro­päischen Ländern Inter­views mit SalafistInnen und JihadistInnen führen konnte. Die Ergeb­nisse dieser qualitativen Religion­forschung sind u.a. meiner Dissertation ‚Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger‘ (2018) zu entnehmen.

Wie sind Sie auf das Thema Ihrer Habi­litation gekommen und was ist für Sie das Interes­sante daran?

Der physische Anschluss einiger meiner früheren Interview-Partnerinnen aus dem deutschen jihadis­tischen Milieu mit ihren Kindern an den Islami­schen Staat (IS) und deren dortige reli­giöse Soziali­sation stellt für mich eine weitere Entwick­lung in der Radika­lisierung vulne­rabler Gruppen dar, die bislang empi­risch noch unter­forscht ist. Wichtig ist dabei stets das Verständ­nis dafür, dass diese Kinder nicht selbst die Entschei­dung getroffen haben, sich einer jihadis­tischen Ideo­logie oder Gruppe anzuschließen, sondern durch ihre Erziehungs­berech­tigten fremd­bestimmt in dieses extremis­tische Milieu gelangten. Als Religions­wissenschaftlerin mit einer religions­psychologischen Ausrich­tung stellten sich für mich infolge­dessen sowohl Fragen hinsicht­lich der gender-bezogenen Selbst­verortung der Mütter als Teil des ‚Kalifats‘ als auch – mit Blick auf die Adaption der IS-Werte und -Normen und der reli­giösen Entwick­lung der Kinder im ‚Kalifat‘ – nach ihrer Rück­kehr. Religions­pädagogisch interessant sind darüber hinaus für mich auch Fragen des Umgangs der zurück­gekehrten Kinder und Jugend­lichen und ihrer Mütter mit ihren nicht-jihadis­tischen Peer Groups.

Wie haben Sie mit Ihren Interview-PartnerInnen Kontakt geknüpft und über diese lange Zeitspanne gehalten?

Der Kontakt kam durch meine Inter­views mit deutschen Jihadistinnen zustande, die ich im Rahmen meiner Studie ‚Frauen im Dschihad – Salafis­mus als trans­nationale Bewegung‘ (2023) mit deutschen und euro­päischen Jihadis­tinnen befragen konnte. Über einen Zeit­raum von drei Jahren habe ich die Kinder/Jugend­lichen und ihre Mütter befragt. Dies passierte aus Sicherheits­erwägungen während ihrer Zeit beim IS per E-Mail, infolge ihrer Rück­kehr nach Deutschland und nach einem Jahr ihres hiesigen Ankommens persön­lich. Ihre Entwick­lungen konnte ich am besten über eine Längs­schnitt­studie nach­zeichnen, da die jungen Befragten, aber auch ihre Mütter als Erwachsene, natür­lich verschie­dene Entwicklungs­stadien im Zusammenhang mit ihren (Gewalt-)Erfahrungen beim IS gemacht haben. So etwas zu verarbeiten braucht ein sicheres Umfeld, Zeit, aber vor allem familiäre, religions­pädago­gische und psycho­logische Betreuung. Erst dann ist eine Re-Integration dieser Gruppen in die deutsche Gesell­schaft meiner Erfahrung nach realistisch.

In Ihrem Buch beschreiben Sie unter anderem die vielfäl­tigen und teils nicht-religiösen Beweg­gründe, welche die zum Islam konver­tierten Mütter hatten, um in den IS auszureisen und „ihre Kinder mit auf eine Reise ins Ungewisse“ zu nehmen. Im Zentrum Ihrer Studie stehen jedoch die gender-sensiblen Themen wie etwa die geschlechts­spezifische Erziehung und Indok­trinierung der „Young Sahaba“ – wie die Kinder der jihadis­tischen Mütter genannt werden – durch den IS in Syrien sowie das dort zu erfüllende Mutter­bild. Darüber hinaus wird in Ihrer Studie durch die Nähe der Inter­views auf dramatische Weise deutlich, aus welchen Gründen die Mütter wieder nach Deutsch­land zurück­gekommen sind und wie die „Wieder­eingliederung“ aller Rück­kehrerInnen verlief. Gab es hierzu staatlicher­seits Unterstützungs­programme und Hilfs­angebote zur „Resoziali­sierung“?

Ich denke, dass dahing­ehend viele Länder noch in den Kinder­schuhen stecken. In Frank­reich und auf dem Balkan gibt es aufgrund der großen Anzahl von ausgereisten bzw. zurück­gekehrten Müttern und ihrer Kinder bereits einige gute Initia­tiven. In Deutsch­land beschäftigen sich meines Wissens nach einige wenige Psycho­logInnen, Thera­peutInnen und De-Radikalisierungs-/Präventions-Stellen damit. Hier wäre bspw. der Verein IFAK e.V. mit seiner aktuellen Initiative ‚Pro Kids‘ zu benennen.

Wie sollte die deutsche Gesell­schaft Ihrer Meinung mit den RückkehrerInnen umgehen?

Zunächst ist darauf hinzu­weisen, dass jeder Fall individuell ist. Das Wissen darum ist insofern wichtig, um zu verhin­dern, dass voreilige Schlüsse oder populis­tische Forde­rungen seitens spezi­fischer Interessen­gruppen in Bezug auf diese Gruppe gezogen bzw. gestellt werden. Dann ist es not­wendig, verstärkt in die psycho­logische Betreuung der Zurück­gekehrten und ihrer Kinder zu inves­tieren, am besten begleitet von religions­affiner Expertise, damit in den konkreten Fällen bestimmte religiöse Einstel­lungen und Wert­urteile besser nach­vollzogen werden können. Nur dann können die Betroffenen ange­messen betreut werden, so dass ihre psychi­sche Abnabe­lung vom IS erfolgen kann. Diese ist eine essentielle Voraus­setzung für ihre Re-Integration. Nur wer mit dem Kopf und dem Herzen in der deutschen Gesell­schaft angekommen ist, wird diese als einen Ort betrachten, mit dem er/sie sich identi­fiziert. Dadurch kann eine bestehende Ideo­logisierung oder eine Folge-Radikali­sierung vor Ort, die mit­unter aufgrund der Ent­wurzelung der Betrof­fenen statt­finden kann, durch­brochen werden.

Welche Empfehlungen würden Sie aufgrund Ihrer Pionier­forschung in diesem Themen­bereich aussprechen?

Zu empfehlen wäre meiner Ansicht nach eine Inves­tition in einen religions­wissenschaft­lichen Sachverstand für Arbeits­bereiche, die mit diesen Rück­kehrerInnen beruf­lich befasst sind. Hier­durch könnten die zahl­reichen Facetten von reli­giös motiviertem Extremis­mus zum einen in Gänze erfasst und ent­sprechende Gut­achten und Präventions­maßnahmen erstellt werden. Für Arbeits­bereiche, die viel­mehr mit der De-Radikalisierung oder der Straf­verfol­gung dieser Gruppe beschäf­tigt sind, könnte die Breite religions­wissen­schaftliche Expertise zum anderen dazu genutzt werden, um adä­quate De-Radikalisierungs- und Wieder­eingliederungs­maßnahmen für die Betroffenen, ihre Familien und deren Opfer einzu­richten und anzu­bieten.

Vielen Dank für das aufschluss­reiche Gespräch zu Ihrer wichtigen Forschung.

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PD Dr. Nina Käsehage im Interview mit DW Deutsch auf Youtube zum Thema „Lassen sich ehemalige IS-Anhänger wieder integrieren?“ (21. November 2023)

Nina Käsehage
„The Young Sahaba“
Die religiöse Sozialisation von Kindern und Jugendlichen im jihadistischen Milieu

2024. 514 Seiten mit 25 Abb. Kart.
€ 69,–
ISBN 978-3-17-044512-3

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