Anlässlich des Erscheinens des neuesten Bandes aus der Reihe „Religionspädagogik innovativ“ führten wir mit Prof. Dr. Grümme, Autor des Werkes „Öffentliche Religionspädagogik“, das folgende schriftliche Interview.
Unter dem Begriff „Öffentliche Theologie“ ist in der Systematischen Theologie die Reflexion von Fragen öffentlicher Relevanz zusammengefasst. Warum brauchen wir eine „Öffentliche Religionspädagogik“?
Religionspädagogik als Reflexion religiöser Lernprozesse wäre falsch verstanden, würde diese nur als Reflexion kirchlichen oder auf Einweisung in Glaubenspraxis verstandenen Lernens und Lehrens interpretiert. Religionspädagogik zielt auf die Autonomie und Mündigkeit der Lernenden. Sie fragt danach, welche Rolle Religion und Glaube in diesem Prozess der Selbstbestimmung und Freiheit der Menschen spielen kann. Weder Religion, Glaube und Kirche noch die Prozesse von Selbstbestimmung und Freiheit sind aus der Öffentlichkeit herauszuhalten oder gar auf die private Innerlichkeit zu beschränken. Man kann am Laizismus in Frankreich, an liberalen Gesellschaften wie den USA oder unter wiederum anderen Voraussetzungen in Deutschland erkennen, dass sich Religion insbesondere unter den gegenwärtigen Bedingungen von Individualisierung, Pluralisierung und Säkularisierung der Spätmoderne nicht auf die privaten Lebenswelten beschränken lässt. Auch die Autonomie der Subjekte ist in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen unter dem Zwängen von Ökonomie und Herrschaft je neu zu erringen. Ohne ihn politisieren zu dürfen, hat überdies der christliche Glaube in enger Verschränkung mit seiner mystischen Dimension eine politische Dimension. Aus diesen drei Gesichtspunkten heraus wird die Relevanz einer Öffentlichen Religionspädagogik eklatant sichtbar. Es geht um Bildung der Subjekte im Lichte religiöser Überlieferung und deren möglichen Beitrag für subjektive Identität und gesellschaftliche Prozesse. Dabei meint Öffentlichkeit nicht bloß das alltägliche oder medial vermittelte Miteinander der Menschen. Vielmehr ist diese selbst als ein von Vernunft, thematischer Offenheit und Gleichberechtigung normativ bestimmter Zielhorizont zu bestimmen.
Sie betonen in Ihrem Buch, wie wichtig Bildung als Schlüssel für die Freiheit des Denkens ist. Wie wird man gebildet? Wann ist dieser Prozess abgeschlossen? Welche Rolle spielt dabei die Religion? Kann die (religiöse) Bildung überhaupt vom Menschen ausgehen?
Bildung ist ein zentraler Begriff der Pädagogik. Er lässt sich aber ebenfalls aus philosophischen und jüdisch-christlichen Überlieferungen her erschließen. Traditionell steht er in Konkurrenz wie in Ergänzung mit dem Begriff der Erziehung. Kurz gesagt denkt Erziehung stärker von Gesellschaft und anderen Instanzen her, auf die hin und von denen her erzogen werden soll. Insofern kann Erziehung im Erwachsenenalter abgeschlossen sein. Bildung hingegen denkt von den Menschen her. Sie fragt nicht primär nach Wissensbeständen, die jemand haben und beherrschen muss, um gebildet zu sein. Ein Bildungskanon oder eine Menge unzusammenhängender Wissenselemente, die in Quizsendungen abgefragt werden können, sind nicht Hauptmoment von Bildung. Bildung ist vielmehr die Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen, wirklich frei sein zu wollen, diese Freiheit Umständen abtrotzen zu können und Sinn zu finden. Bildung beruht auf Freiheit und kann letztlich nur vom Subjekt selbst vollzogen werden. Man kann andere erziehen, nicht aber andere bilden. Wohl kann man Wissensbestände vermitteln und Haltungen anbahnen, die dies erleichtern. Bildung hat mit Ethik und Sinn, hat mit Hoffnung und Wahrheit zu tun. Darum gehört in Bildungsprozesse auch Religion wesentlich hinein. Dies ist ein offener, wegen der Freiheit der Beteiligten und der Unauslotbarkeit der religiösen Tradition unabschließbarer Prozess. Eine recht verstandene Religionspädagogik hält sich deshalb ihrerseits konstitutiv offen. Sie vollzieht sich als eine kontextuell beheimatete Suchbewegung.
Welchen Nutzen hat die Religionspädagogik von dieser Öffentlichkeit?
Es ist problematisch, religiöses Lernen bereits im Ansatz utilitaristisch anzulegen. Statt von Nutzen wäre eher von einem Selbstvollzug und einem möglichen Beitrag religiösen Lernens und Lehrens zu reden. So gesehen wird deutlich, wie stark Religionspädagogik aus dem Erbe der religiösen Tradition bereits auf eine solche Öffentlichkeit verwiesen ist. Hier hat sie ihre Wahrheit zu bezeugen. Paulus hat die Botschaft des Evangeliums auf der Agora verkündet und im Gespräch ausgewiesen. Im Gang der Christentumsgeschichte haben Christen die Wahrheit des Glaubens ihrem Leben abgetrotzt und in ihrem Leben praktisch bezeugt, auch wenn diese nicht selten dort und im kirchlichen Vollzug manchmal all zu sehr verdunkelt wurde. In wechselseitiger Durchdringung mit mystischen Traditionen wohnt dem Christentum ein Öffentlichkeitsbezug inne. Andererseits sieht die Religionspädagogik gerade erst durch ihren jeweiligen Kontext die „Zeichen der Zeit“. Sie bekommt erst dadurch jene Anfragen und Herausforderungen, durch die sie ihre je bestimmte Wahrheit und Konkretion gewinnt. Erst dadurch kann sie fragen und in Lernprozessen zur Sprache bringen, was es heißt, heute als Christ zu leben. Von diesen Anfragen ausgehend kann sie selbst kritische Fragen an die religiöse Überlieferung und auch die eigene Geschichte der Verkündigung stellen. Eine öffentlichkeitsvermeidende Religionspädagogik stellte also eine erhebliche Verarmung dar.
Welche Bedeutung hat die Religionspädagogik für die Zivilgesellschaft?
Dort wo zivilgesellschaftliche Selbstverständigungen schnell mit dem Aufweis von Alternativlosigkeiten bei der Hand sind, dort, wo man sich mit dem Gegebenen und den Kreis der immer schon wie selbstverständlich Teilnehmenden begnügt, dort wo man sich thematisch auf Überkommenes oder gar auf Banalitäten und Trivialitäten beschränkt, dort würde Religionspädagogik eine bestimmte Tradition und Hoffnung zur Sprache bringen. Sie würde auf vergessene Perspektiven aufmerksam machen, würde sensibel machen für die an zivilgesellschaftlichen Prozessen Ausgeschlossenen und Sinnperspektiven einbringen. Insofern würde sie sich in den Dienst der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit stellen.
Wie kann Religionsunterricht an Schulen noch plausibel gemacht werden und welchen Anforderungen muss er sich stellen?
Genau unter diesen skizzierten Bedingungen ist Bildung erforderlich. Menschen müssen wahrnehmungsfähig, urteilsfähig und handlungsfähig werden in Bezug auf Religion und Glaube. Sie müssen eine Sprache hierfür finden und auch angeboten bekommen können. Dies hat noch nicht eine Einführung in den Glauben zum Ziel. Dies ist im Religionsunterricht der öffentlichen Schule, in dem Schülerinnen und Schüler mit religiös sehr heterogenen Voraussetzungen und lebensweltlichen Bezügen leben, schon im Sinne der grundgesetzlich verbürgten Religionsfreiheit nicht legitimierbar. Der Religionsunterricht findet seinen Sinn im Wesentlichen in diesem Beitrag zur Bildung. Dabei ist er auf die anderen Fächer und deren jeweiligem Bildungsauftrag kritisch wie korrelativ bezogen. Er muss pluralitäts- und säkularitätsfähig sein, insofern er sich einerseits an den Subjekten orientiert, ohne dabei die Wahrheit der religiösen Tradition zu relativieren. Es geht ja vielmehr darum, diese in dem bestimmten Kontext im Blick auf die Subjekte überhaupt zur Sprache zu bringen. Insofern muss ein solcher Religionsunterricht subjektorientiert, dialogfähig, kontextuell und wahrheitsfähig sein. Kurz: er muss sich um ein konstruktives Verhältnis von Identität und Verständigung bemühen.
Der Religionsunterricht soll auf die Schülerinnen und Schüler in ihrer Situation eingehen, die immer weniger einen traditionellen kirchlichen Hintergrund haben und sich gleichzeitig aus einem breiten Spektrum religiöser „Angebote“ bedienen können – Kann man angesichts dieser Pluralität überhaupt noch von „der“ religiösen Bildung sprechen?
Hier wird man unterscheiden müssen. Angesichts der vielfältigen Pluralisierungen von Religion, angesichts eines Gegenwartskontextes, in dem man sich aus verschiedenen Elementen tradierter wie neu zusammengestellter Religion und religiös aufgeladene Elemente die eigene Religiosität zusammenstellen kann, wird die Kommunikation religiöser Tradition immer schwieriger. In inhaltlicher wie methodischer Hinsicht wird man im Sinne der Korrelationsdidaktik von vornherein stark subjektorientiert denken müssen. Glaubenlernen und Lebenlernen, Tradition und Erfahrung müssen in einen kritischen wie konstruktiven Dialog gebracht werden. Ohne diesen würde die Botschaft heute nicht mehr verstanden und könnte den Menschen auch nichts mehr sagen. Insofern kann es die eine religiöse Bildung nicht geben. Aber in normativer Hinsicht sollte religiöse Bildung durchaus auch und gerade am Ziel von Mündigkeit und Selbstbestimmung einer in Geschichte und Gesellschaft vollzogenen Freiheit ausgerichtet sein. Insofern lässt sich hier durchaus ein Profil religiöser Bildung konturieren.
Wir danken Ihnen für Ihre Mühe und Ihre Zeit.
Das Interview führte Julia Zubcic.