Kundenspezifische, entscheidungsrelevante und aktuelle Informationen sind der „Goldstandard des 21. Jahrhunderts“. Das moderne Marketing lebt davon, schnell agieren und wirkungsvoll handeln zu können. Dafür müssen – im Idealfall – alle Daten im Unternehmen möglichst in Echtzeit zur Verfügung stehen – an dieser Stelle kommt die Marketing Intelligence (MI) ins Spiel. Sie sammelt und analysiert Informationen über Kunden, Märkte, Produkte, Konkurrenten und Rahmenbedingungen, die fundierte Entscheidungen des Marketing-Managements vorbereiten sollen. Grundvoraussetzung dafür ist die Integration aller verteilt vorhandenen Daten und die Fähigkeit, diese zentrale Datenbasis sinnvoll zu integrieren, so dass marketingrelevante Kausalitäten und Beziehungen schnell ausgewertet werden können. Unsere Autorin, Prof. Dr. Elke Theobald, ist anerkannte Spezialistin für Marketing Intelligence, und hat in Ihrem neuen Lehrbuch die einschlägigen Grundlagen, notwendigen Rahmenbedingungen und praxisrelevanten Methoden zusammengefasst und dargestellt.
Zu welchem Vorgehen raten Sie einem Unternehmen, das eine zentrale MI-Abteilung gründen möchte?
Bei dem Aufbau einer zentralen MI-Abteilung gilt das gleiche wie bei jeder organisatorischen Veränderung in Unternehmen: Das Aufgabenspektrum der MI-Abteilung und die Integration in die Gesamtorganisation müssen geklärt werden. Die MI-Abteilung hat typischerweise eine Servicefunktion inne, sie beantwortet Fragen der benachbarten Einheiten wie Marketing, Vertrieb, Produktmanagement oder der Geschäftsleitung, treibt aber auch unabhängig den Wissensstand des Unternehmens durch selbstgesetzte Fragestellungen voran. Damit die Etablierung einer zentralen MI-Abteilung gelingt, ist es wichtig, die internen Stakeholder aus anderen Bereichen einzubinden und die Erwartungen an die Informationsservices der zentralen MI-Abteilung abzuholen. Mit dem Aufbau der Abteilung sollten ein definiertes Servicelevel und Themenschwerpunkte der Arbeit kommuniziert werden. Erfolgreich ist eine zentrale MI-Abteilung, wenn sie Tools für den Marketing Intelligence Self-Service des Unternehmens etablieren kann, so dass die Informationsanfragen von den Kollegen in Eigenregie über eine Plattform beantwortet werden können. Die Vision ist dabei die Schaffung eines Single Point of Truth, der das Referenzmodell für die gemeinsame Markteinschätzung im Unternehmen wird. Wenn es dem Unternehmen gelingt, dass die von der MI-Abteilung geschaffenen Informationen ein wesentlicher Bestandteil der Diskussionsgrundlage bei Entscheidungsmeetings werden, dann glückt nicht nur der Aufbau der zentralen MI-Abteilung, sondern sichert auch das kontinuierliche Fortbestehen der Abteilung und wandelt die Unternehmenskultur zu einer informationsbasierten „datengetriebenen“ Entscheidungskultur.
Reicht dazu eigentlich die vorhandene EDV im Unternehmen aus bzw. welche technischen Voraussetzungen sollten erfüllt sein, um wirksame MI betreiben zu können?
Die Herausforderung bei den IT-Systemen im MI-Bereich liegt in den heterogenen Datenbeständen. Da sich die MI unterschiedlichster Datenquellen bedient, werden Plattformen benötigt, die das Datenhandling heterogener Bestände ermöglichen, also Data Warehouse- oder Big Data-Lösungen. Solche Systeme gibt es bereits in vielen Unternehmen, allerdings ist in der klassischen Rollenverteilung nicht vorgesehen, auch Marketingdaten in einem größeren Umfang damit abzubilden. Sehr häufig müssen daher zusätzliche IT-Projekte gestartet werden, um die MI-Informationen datentechnisch zu speichern. Um aber wirklich effektiv arbeiten zu können, genügt nicht nur die Etablierung einer strukturierten Datenspeicherung, die MI-Analysten benötigen weitergehende Funktionalitäten für die Unterstützung ihrer täglichen Arbeit wie zum Beispiel Analysetools, die Unterstützung der Teamarbeit durch Groupware-Funktionalitäten, Freigabeprozesse und Berechtigungssteuerungen, moderne Tools zur Datenerhebung, Reporting-Funktionen und vor allen Dingen auch neue Methoden, um mit den großen und unstrukturierten Datenmengen zu arbeiten. Es gibt viele Tools in den Unternehmen, die jeweils einen Teilbereich abdecken. In vielen Unternehmen fehlt jedoch häufig eine integrierte IT-Plattform, die die wichtigsten Facetten der täglichen MI-Arbeit abdeckt. Daher entsteht bei der Etablierung einer zentralen MI-Abteilung auch häufig der Bedarf nach einer zentralen MI-Plattform, die die Arbeitsprozesse der Analysten unterstützt und die Ergebniskommunikation im Unternehmen erleichtert.
Freche Frage: Ist MI nicht nur Marktforschung 4.0 oder steckt mehr dahinter?
Ehrlich gesagt ist der „4.0-Wahn“ in Deutschland inzwischen lästig. Ich halte es mit der Aussage von Karl-Heinz Land „Alles, was sich digitalisieren lässt, wird digitalisiert werden.“ Dies gilt auch für die Marktforschung. Die Marketing Intelligence an sich ist nicht per Definition mit der Digitalisierung verbunden. Marketing Intelligence bedeutet nicht zwingend (digitale) Datenanalyse und Big Data, vielmehr führt die Marketing Intelligence die Informationen über die zentralen Erkenntnisobjekte des Marketing (wie zum Beispiel Kunden, Märkte, Wettbewerber, Umfeldbedingungen) zusammen mit dem Ziel, die Entscheidungsqualität im Marketing-Management durch die Schaffung von handlungsleitendem Wissen zu verbessern. Dabei können, müssen aber nicht zwingend neue digitale Technologien und Analyseverfahren eingesetzt werden.
Der Begriff Intelligence steht im Englischen auch für geheimdienstliche Informationsgewinnung – gibt es Parallelen zur Marketing Intelligence, berührt es auch ethische Fragen der Informationsgewinnung?
In der Tat liegen im englischen Sprachraum dort die Wurzeln des Begriffs Marketing Intelligence und allzu oft kommt es zu Verwechslungen mit dem deutschen Begriff der Intelligenz. Einige Techniken der Marketing Intelligence bedienen sich in der Tat der Erkenntnisse der geheimdienstlichen Informationsgewinnung. So wurden der Intelligence Cycle, also der Prozess der systematischen Informationsgewinnung, und auch bestimmte Techniken der Gesprächsführung aus den Erkenntnissen der Geheimdienstarbeit für die Unternehmenswelt adaptiert. Die Marketing Intelligence verpflichtet sich einem Ehrenkodex, der explizit nur die ethisch einwandfreie Sammlung, Analyse und Verteilung von Wissen zulässt. Im Unternehmensumfeld sollte per se alles andere unzulässig sein. Aber sicherlich muss sich jeder Analyst in seiner täglichen Arbeit die wichtige Frage stellen, welche Methoden zur Informationsgewinnung ethisch vertretbar sind. Da inzwischen viele zentrale Fragestellungen in den Corporate Governance-Richtlinien der Unternehmen eindeutig geregelt sind, sollte es zu weniger ethischen Zweifelsfällen für die Marketing-Analysten kommen.