Die vielen Farben des Autismus

Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung

 

Dr. med. Thomas Girsberger ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Er arbeitet seit weit über 25 Jahren in eigener Praxis in der Nähe von Basel. Seine Schwerpunkte sind ADHS und Autismus-Spektrum. Im Interview gibt er Einblicke in sein Verständnis von Autismus, mit dem er im deutschsprachigen Raum zu den Pionieren zählt.

Portrait von Christian G. Bien
Dr. med. Thomas Girsberger

In den letzten Jahren gewinnt das Thema Autismus sowohl unter Fachleuten als auch in der breiten Öffentlich­keit enorm an Bedeutung. Können Sie uns in kurzen Worten erklären, was Autismus ist?

Unter dem Begriff Autismus fasst man, kurz gesagt, ein Wahrnehmen und Denken zusammen, welches von der Norm (neurotypisch) abweicht. Die Wahrnehmung ist dabei geprägt durch a) eine Bevor­zugung von Details gegenüber dem Ganzen, b) einer Beschrän­kung auf einen Sinnes­kanal zur gleichen Zeit, und c) einer generellen Bevor­zugung des visuellen Kanals. Dies führt zu einer besonderen Art von Denken, welche gut geeignet ist für das Lösen von logischen Problemen, für das Forschen und Tüfteln, aber schlecht geeignet für die zwischen­mensch­liche Kommuni­kation und den Umgang mit intuitiven und emotionalen Vorgängen. Da diese Besonderh­eiten sehr unterschiedlich ausge­prägt und auch oft mit zusätzlichen leichten bis schweren Beein­trächti­gungen verbunden sein können, spricht man von einem Autismus-Spektrum. Es enthält zwei Pole, den klassischen oder früh­kindlichen Autismus und das Asperger-Syndrom.

Wie kann man Autismus und das Asperger-Syndrom vonein­ander abgrenzen?

Der große Unter­schied liegt primär bei den sprachlichen Fähigkeiten und in zweiter Linie bei den intellektuellen Fähigkeiten. Menschen mit Asperger-Syndrom beherrschen die Sprache gut und können sich in der Regel gut ausdrücken. Sie verfügen über eine zumindest durch­schnittliche Intelligenz und können in der Schule meist die normalen Lern­ziele erreichen. Ihre Chancen, später auf dem ersten Arbeits­markt eine Beschäftigung zu finden, sind grund­sätzlich intakt. Menschen mit frühkindlichem Autismus hingegen sind meist deutlicher beein­trächtigt, sowohl was die Sprache wie auch die intellektuellen bzw. schulischen Fähigkeiten betrifft. Sie finden später vorwiegend eine Beschäftigung im zweiten Arbeitsmarkt.

In Ihrem Buch „Die vielen Farben des Autis­mus“ schreiben Sie, dass es sinnvoll ist, alle psychischen Probleme von der Entstehung oder Disposition her auf eine neuro­logische Grund­lage zu stellen. Können Sie dies näher erklären?

Ich gehe vom Grund­satz aus, dass Körper und Geist bzw. Körper und Psyche letztlich eine Einheit darstellen. Alle psychischen oder mentalen Vorgänge basieren auf Hirn­strukturen und Hirn­funktionen. Und so, wie es körper­lich starke/robuste und eher schwäch­liche Konstitu­tionen gibt, gibt es auch psychisch starke und verletz­liche Konstitutionen. Ein guter Kollege und Freund von mir nennt letztere „hoch­sensibel“ oder auch „dünn­häutig“. Solche Eigenschaften sind offensichtlich genetisch bedingt und haben eine neuro­logische Grundlage. Ich bin der Meinung, dass dünn­häutige Menschen, und dazu gehören offen­sichtlich auch jene mit Autismus, sehr viel stress­anfälliger sind als neuro­typische Menschen. Verschie­dene Formen von psychischen Störungen bzw. Problemen sind demnach letztlich Folgen von über­mässigem Stress bei diesen anfälligen Menschen. Stress kann dabei viel­fältige Formen annehmen, kann mehr von aussen auf­gezwun­gen sein oder durch eigene hohe Ansprüche entstehen.

Autismus - bei Kohlhammer

Sie sind Fach­arzt für Kinder- und Jugend­psychiatrie und arbeiten seit 25 Jahren in eigener Praxis. Ihre Schwer­punkte sind ADHS und das Autismus-Spektrum. In Ihrem Buch benennen Sie den Syste­mischen Ansatz als das Parade­beispiel für die Autismus-Therapie. Können Sie uns kurz erklären, was der Syste­mische Ansatz ist und wie dieser im Besonderen bei Autismus helfen kann?

Die klassische Psycho­therapie ging traditions­gemäß von einem Ansatz aus, der auf das Individuum, die einzelne Person, zentriert war. Freud schuf mit seinen Konstruk­ten des Es, Ich und Überich ein Konzept, welches davon ausging, dass psychische Störungen durch Konflikte zwischen diesen inner­psychischen Instanzen entstehen. Das mag zu Freuds Zeiten ein hilf­reicher Ansatz gewesen sein, heute ist dies jedoch anders, insbesondere bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Diese Menschen haben keine psychische Störung, sondern sie müssen lernen, mit ihrem Anders­sein zurecht­zukommen und sich trotz dieses Andersseins in ihrer Umwelt zurecht­zufinden. Dazu brauchen sie von klein auf Unter­stützung: von den Eltern, von Lehrpersonen, von Angeboten wie Ergotherapie oder Logopädie, später von Job-Coaches und anderen Hilfe­stellungen. Die Aufgabe des Autismus-Experten ist es, all diese unter­stützenden Personen und Angebote zu instruieren, zu koordinieren und weiter­zubilden. Und genau eine solche Vorgehens­weise nennt man systemisch. Das System des Menschen mit Autismus ist das Netz an Personen um ihn herum: Familie, Lehrpersonen, usw. Ein systemischer Therapeut „behandelt“ also primär dieses Netz und nicht das Individuum.

Ihr Werk „Die vielen Farben des Autismus“ enthält auch praktische Anlei­tungen. Welchen Rat haben Sie für den Umgang mit Sturheit und Verweigerung?

Es ist immer etwas heikel, auf eine so komplexe Proble­tmatik mit ein paar wenigen Sätzen zu antworten. Auch in meinem Buch werden dazu in erster Linie Denk­anstöße gegeben, die in anderen Werken aus­führlicher behandelt werden. Aber kurz gesagt ist es sehr wichtig, dass die erziehende Person eine ruhige und distanzierte Haltung einnimmt. Nicht „sich durchsetzen“ oder „klare Auf­forderungen geben“ sind gefragt (wie beim ADHS!), sondern ruhig, aber beharrlich bleiben. Wenn nötig einen Schritt zurückmachen, eine Pause machen, und dann mit dem gleichen Anliegen wieder­kommen, wenn möglich verhandeln; der Sturheit des Betroffenen wird also mit Flexi­bilität begegnet, und seiner „Aufgeregt­heit“ mit Ruhe. Menschen mit Autismus werden stur und bockig, wenn sie gestresst sind, also muss in erster Linie der Stress reduziert werden, bevor man irgend­etwas erreichen kann.

Noch eine letzte Frage, was möchten Sie dem Leser mitgeben, bevor er Ihr Buch auf­schlägt und liest?

Autismus ist ein komplexes und viel­fältiges Phäno­men, deshalb heißt mein Buch „Die vielen Farben des Autismus“. Jeder Leser sollte von der Idee Abstand nehmen, dass es DEN Autismus gibt und dass dieser allgemein­gültige Eigenschaften aufweist. Manche Menschen mit Autismus sind rasch als solche erkennbar, andere können sich – ober­flächlich gesehen – völlig normal benehmen. Es gibt KEIN Symptom bzw. Phänomen, dass zwingend bei allen von Autismus Betroffenen vor­kommen muss und dessen Fehlen dann ein sogenanntes Ausschluss­kriterium wäre.

Für ihre Zeit und Mühe bedanken wir uns sehr herzlich.

Lesen Sie auch das Interview mit unserem Autor zu seinem Werk „Mit Autismus den Alltag meistern“


Das Internet ist für Eltern von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen wie auch für erwachsene Betroffene eine große Hilfe. Es werden hier für jedes Land Internet-Adressen von Selbsthilfe-Vereinen und -Foren aufgezählt, über welche dann wiederum eine Viel­zahl von Informa­tionen, Angeboten, Abklärungs­stellen usw. gefunden werden können.

Elternvereine und Selbsthilfegruppen
autismus.de
aspergerhilfe.ch
autismushilfe.ch
autismus.ch
aspies.de
autistenhilfe.at

Online-Sicherheitsleitfaden für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (englisch)
wizcase.com

Internet-Foren
asperger-forum.de
autismusforumschweiz.ch
asperger-forum.ch
autismus.at

Thomas Girsberger
Die vielen Farben des Autismus
Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung

6., überarb. Auflage 2021
187 Seiten mit 6 Abb. Kart.
€ 29,–
ISBN 978-3-17-041397-9

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