Der Nahe Osten kommt nicht zur Ruhe. Am 7. Oktober startete die Hamas aus dem Gazastreifen einen Angriff auf Israel, bei dem Kämpfer die israelischen Grenzanlagen überwanden, in Militärbasen und Siedlungen eindrangen, Zivilisten ermordeten oder als Geiseln verschleppten und parallel Israel mit Tausenden von Raketen beschossen.
Wir haben mit unserem Autor Jörg Armbruster, der viele Jahre Korrespondent der ARD im Nahen Osten war und die Region wie nur wenige kennt, um eine Einschätzung der aktuellen Geschehnisse gebeten.
Wie konnte es zu diesem schrecklichen Ausbruch von Gewalt kommen?
Ja, gute Frage … Beantworten lässt sie sich aktuell allerdings noch nicht. Betrachtet man jedoch die Entwicklung im gesamten Nahen Osten über einen längeren Zeitraum, so stand ein Aufflammen der Gewalt durchaus zu erwarten. Die Annäherungen zwischen Israel und einigen Golfstaaten waren dem Iran und seinen Verbündeten ein Dorn in den Augen. Natürlich waren die konkreten Ereignisse für uns Außenstehende nicht vorhersehbar. Offenbar ja nicht einmal für die Geheimdienste…
Stichwort „Geheimdienste“ … Das kapitale Versagen aller Geheimdienste ist in der Tat auffällig. Gibt es hierfür bereits eine für uns erkennbare Erklärung?
Ich sehe zunächst ein großes Versagen der Geheimdienste… Vor allem gilt es zu bedenken, dass die eigentlich über so gut wie alles Bescheid wissen, was im Gazastreifen oder dem Westjordanland passiert. Warum die Sicherheitsdienste diesmal offensichtlich keine Ahnung hatten, ist höchst verwunderlich. Zumal die Hamas eine solche Aktion nicht von heut auf morgen einfach befehlen konnte, sondern diese sehr lange vorbereiten musste. Unter anderem hat sie den Grenzübergang Eretz zum Gazastreifen scheinbar mühelos erobert, obgleich ich bei meinen Besuchen im Gazastreifen selbst sehen konnte, dass es sich hierbei um eine regelrechte Festung handelt. Wie solch ein überraschender Handstreich möglich war und wie dessen Vorbereitung im Verborgenen erfolgen konnte, ist eine der großen Fragen… Ich vermute aber, dass irgendwann hohe Beamte, Minister und möglicherweise auch der Ministerpräsident aufgrund dieser Nachlässigkeiten zurücktreten müssen.
Die Hamas hatte ja 2006 im Gazastreifen einen Wahlsieg errungen, sich seitdem aber keinen weiteren Wahlen mehr gestellt. Wie schätzen Sie den Rückhalt der Machthaber in der Zivilbevölkerung ein? Was hält man von einer derartigen Eskalation?
Da die Menschen im Gazastreifen genau wissen, dass sie die Opfer der brutalen Politik der Hamas sind, dürfte zumindest bei einem großen Teil der Bevölkerung der Rückhalt nicht allzu groß sein. Die Hamas terrorisiert auch die eigene Bevölkerung. Eine Wahl würde sie heute vermutlich nicht mehr gewinnen wie einst 2006. Die Menschen im Gazastreifen haben mit Sicherheit große Angst, weil sie wissen, die Bomben und Raketen treffen nicht nur Hamas-Einrichtungen. Die meisten Toten gab es bei vorausgegangenen Gaza-Kriegen immer unter der Zivilbevölkerung.
Ich frage mich, warum Hamas und Hisbollah, die ja beide von Iran unterstützt werden, ihre Kräfte nicht koordiniert haben?
Da wissen wir noch zu wenig. Vermutlich aber hat es Absprachen und Austausch von Informationen gegeben; denn Hisbollah und Hamas sind bei allen religiösen und ideologischen Differenzen Partner im Kampf gegen Israel. Beide wollen diesen Staat auslöschen. Der Iran als Mastermind zieht im Hintergrund die Strippen.
Wenn aber Iran hinter Planung und Ausstattung der Hamas-Aktion steht – warum hat die Hisbollah dann keinen Zwei-Fronten-Krieg daraus gemacht?
Was heute noch nicht ist, kann noch werden. Wir sind am Anfang eines vermutlich langen Krieges. Und je nachdem, was die Israelis vorhaben, kann die Schiitenmiliz im Libanon immer noch eingreifen. Sie ist hoch gerüstet.
Es ist ja schon viel über externe Drahtzieher spekuliert worden: Wie schätzen Sie den Einfluss der großen Akteure bei diesem Ereignis ein?
Es ist nicht ausgeschlossen, dass solch ein regionaler Krieg gewissermaßen im Windschatten der großen Auseinandersetzung in der Ukraine entsteht. Bei dem letzten Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan hat das sicherlich eine Rolle gespielt. Was Israel angeht, wird die Regierung und das Militär unabhängig von solchen Überlegungen sehr hart zurückschlagen, schließlich steht die Sicherheit des Landes auf dem Spiel wie noch nie zuvor. Sollte die Hisbollah im Norden Israel angreifen, dann kann man leider einen Flächenbrand nicht mehr ausschließen. Man darf nicht vergessen, dass in Syrien iranische Milizen stehen, die auch mit Raketen ausgerüstet sind.
Wie geht es nun Ihrer Meinung nach weiter?
Das lässt sich aktuell noch nicht absehen. Nur so viel: Israel wird ein ganz anderes Land sein als vor diesem Ãœberfall. Während der KampfÂhandlungen wird die GesellÂschaft zusammenstehen. Danach aber müssen sich die Israelis fragen, wer für das Desaster die Verantwortung trägt. Nach dem Jom Kippur-Krieg ist Golda Meir bspw. mit ihrem Kabinett zurückgetreten. Und, wie immer bei Kriegen, wird die Zivilbevölkerung am meisten leiden. Das war bei den Gaza-Kriegen in der Vergangenheit so und wird auch diesmal so sein, besonders bei einer Bodenoffensive. Angst muss man ganz besonders um die israelischen Geiseln in der Gewalt der Hamas haben. Außerdem wird der Beschuss Israels durch sie weitergehen.
Vielen Dank für Ihre Einschätzungen!
Jörg Armbruster war FernsehÂkorresÂpondent der ARD für den Nahen und Mittleren Osten. Für seine BerichtÂerstattung wurde er mehrfach ausgeÂzeichnet, unter anderem mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für FernsehÂjournaÂlismus und dem Bayerischen FernsehÂpreis für sein Lebenswerk. Die EntwickÂlungen im Nahen Osten hat er über viele Jahre beobachtet, im Mai dieses Jahres erschien sein aktuelles Buch „Ewiger Krisenherd: Ist der Nahe Osten noch zu retten?“.
Das Interview mit Jörg Armbruster führte Dr. Peter Kritzinger aus dem Lektorat Geschichte/ Politik/ Gesellschaft. Fotos: Tobias Merkle.