In den letzten Jahren gewinnt das Thema Autismus sowohl unter Fachleuten als auch in der breiten ÖffentlichÂkeit enorm an Bedeutung. Können Sie uns in kurzen Worten erklären, was Autismus ist?
Unter dem Begriff Autismus fasst man, kurz gesagt, ein Wahrnehmen und Denken zusammen, welches von der Norm (neurotypisch) abweicht. Die Wahrnehmung ist dabei geprägt durch a) eine BevorÂzugung von Details gegenüber dem Ganzen, b) einer BeschränÂkung auf einen SinnesÂkanal zur gleichen Zeit, und c) einer generellen BevorÂzugung des visuellen Kanals. Dies führt zu einer besonderen Art von Denken, welche gut geeignet ist für das Lösen von logischen Problemen, für das Forschen und Tüfteln, aber schlecht geeignet für die zwischenÂmenschÂliche KommuniÂkation und den Umgang mit intuitiven und emotionalen Vorgängen. Da diese BesonderhÂeiten sehr unterschiedlich ausgeÂprägt und auch oft mit zusätzlichen leichten bis schweren BeeinÂträchtiÂgungen verbunden sein können, spricht man von einem Autismus-Spektrum. Es enthält zwei Pole, den klassischen oder frühÂkindlichen Autismus und das Asperger-Syndrom.
Wie kann man Autismus und das Asperger-Syndrom voneinÂander abgrenzen?
Der große UnterÂschied liegt primär bei den sprachlichen Fähigkeiten und in zweiter Linie bei den intellektuellen Fähigkeiten. Menschen mit Asperger-Syndrom beherrschen die Sprache gut und können sich in der Regel gut ausdrücken. Sie verfügen über eine zumindest durchÂschnittliche Intelligenz und können in der Schule meist die normalen LernÂziele erreichen. Ihre Chancen, später auf dem ersten ArbeitsÂmarkt eine Beschäftigung zu finden, sind grundÂsätzlich intakt. Menschen mit frühkindlichem Autismus hingegen sind meist deutlicher beeinÂträchtigt, sowohl was die Sprache wie auch die intellektuellen bzw. schulischen Fähigkeiten betrifft. Sie finden später vorwiegend eine Beschäftigung im zweiten Arbeitsmarkt.
In Ihrem Buch „Die vielen Farben des AutisÂmus“ schreiben Sie, dass es sinnvoll ist, alle psychischen Probleme von der Entstehung oder Disposition her auf eine neuroÂlogische GrundÂlage zu stellen. Können Sie dies näher erklären?
Ich gehe vom GrundÂsatz aus, dass Körper und Geist bzw. Körper und Psyche letztlich eine Einheit darstellen. Alle psychischen oder mentalen Vorgänge basieren auf HirnÂstrukturen und HirnÂfunktionen. Und so, wie es körperÂlich starke/robuste und eher schwächÂliche KonstituÂtionen gibt, gibt es auch psychisch starke und verletzÂliche Konstitutionen. Ein guter Kollege und Freund von mir nennt letztere „hochÂsensibel“ oder auch „dünnÂhäutig“. Solche Eigenschaften sind offensichtlich genetisch bedingt und haben eine neuroÂlogische Grundlage. Ich bin der Meinung, dass dünnÂhäutige Menschen, und dazu gehören offenÂsichtlich auch jene mit Autismus, sehr viel stressÂanfälliger sind als neuroÂtypische Menschen. VerschieÂdene Formen von psychischen Störungen bzw. Problemen sind demnach letztlich Folgen von überÂmässigem Stress bei diesen anfälligen Menschen. Stress kann dabei vielÂfältige Formen annehmen, kann mehr von aussen aufÂgezwunÂgen sein oder durch eigene hohe Ansprüche entstehen.
Sie sind FachÂarzt für Kinder- und JugendÂpsychiatrie und arbeiten seit 25 Jahren in eigener Praxis. Ihre SchwerÂpunkte sind ADHS und das Autismus-Spektrum. In Ihrem Buch benennen Sie den SysteÂmischen Ansatz als das ParadeÂbeispiel für die Autismus-Therapie. Können Sie uns kurz erklären, was der SysteÂmische Ansatz ist und wie dieser im Besonderen bei Autismus helfen kann?
Die klassische PsychoÂtherapie ging traditionsÂgemäß von einem Ansatz aus, der auf das Individuum, die einzelne Person, zentriert war. Freud schuf mit seinen KonstrukÂten des Es, Ich und Ãœberich ein Konzept, welches davon ausging, dass psychische Störungen durch Konflikte zwischen diesen innerÂpsychischen Instanzen entstehen. Das mag zu Freuds Zeiten ein hilfÂreicher Ansatz gewesen sein, heute ist dies jedoch anders, insbesondere bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Diese Menschen haben keine psychische Störung, sondern sie müssen lernen, mit ihrem AndersÂsein zurechtÂzukommen und sich trotz dieses Andersseins in ihrer Umwelt zurechtÂzufinden. Dazu brauchen sie von klein auf UnterÂstützung: von den Eltern, von Lehrpersonen, von Angeboten wie Ergotherapie oder Logopädie, später von Job-Coaches und anderen HilfeÂstellungen. Die Aufgabe des Autismus-Experten ist es, all diese unterÂstützenden Personen und Angebote zu instruieren, zu koordinieren und weiterÂzubilden. Und genau eine solche VorgehensÂweise nennt man systemisch. Das System des Menschen mit Autismus ist das Netz an Personen um ihn herum: Familie, Lehrpersonen, usw. Ein systemischer Therapeut „behandelt“ also primär dieses Netz und nicht das Individuum.
Ihr Werk „Die vielen Farben des Autismus“ enthält auch praktische AnleiÂtungen. Welchen Rat haben Sie für den Umgang mit Sturheit und Verweigerung?
Es ist immer etwas heikel, auf eine so komplexe ProbleÂtmatik mit ein paar wenigen Sätzen zu antworten. Auch in meinem Buch werden dazu in erster Linie DenkÂanstöße gegeben, die in anderen Werken ausÂführlicher behandelt werden. Aber kurz gesagt ist es sehr wichtig, dass die erziehende Person eine ruhige und distanzierte Haltung einnimmt. Nicht „sich durchsetzen“ oder „klare AufÂforderungen geben“ sind gefragt (wie beim ADHS!), sondern ruhig, aber beharrlich bleiben. Wenn nötig einen Schritt zurückmachen, eine Pause machen, und dann mit dem gleichen Anliegen wiederÂkommen, wenn möglich verhandeln; der Sturheit des Betroffenen wird also mit FlexiÂbilität begegnet, und seiner „AufgeregtÂheit“ mit Ruhe. Menschen mit Autismus werden stur und bockig, wenn sie gestresst sind, also muss in erster Linie der Stress reduziert werden, bevor man irgendÂetwas erreichen kann.
Noch eine letzte Frage, was möchten Sie dem Leser mitgeben, bevor er Ihr Buch aufÂschlägt und liest?
Autismus ist ein komplexes und vielÂfältiges PhänoÂmen, deshalb heißt mein Buch „Die vielen Farben des Autismus“. Jeder Leser sollte von der Idee Abstand nehmen, dass es DEN Autismus gibt und dass dieser allgemeinÂgültige Eigenschaften aufweist. Manche Menschen mit Autismus sind rasch als solche erkennbar, andere können sich – oberÂflächlich gesehen – völlig normal benehmen. Es gibt KEIN Symptom bzw. Phänomen, dass zwingend bei allen von Autismus Betroffenen vorÂkommen muss und dessen Fehlen dann ein sogenanntes AusschlussÂkriterium wäre.
Für ihre Zeit und Mühe bedanken wir uns sehr herzlich.
Lesen Sie auch das Interview mit unserem Autor zu seinem Werk „Mit Autismus den Alltag meistern“
Das Internet ist für Eltern von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen wie auch für erwachsene Betroffene eine große Hilfe. Es werden hier für jedes Land Internet-Adressen von Selbsthilfe-Vereinen und -Foren aufgezählt, über welche dann wiederum eine VielÂzahl von InformaÂtionen, Angeboten, AbklärungsÂstellen usw. gefunden werden können.
Elternvereine und Selbsthilfegruppen
autismus.de
aspergerhilfe.ch
autismushilfe.ch
autismus.ch
aspies.de
autistenhilfe.at
Online-Sicherheitsleitfaden für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (englisch)
wizcase.com
Internet-Foren
asperger-forum.de
autismusforumschweiz.ch
asperger-forum.ch
autismus.at
Thomas Girsberger
Die vielen Farben des Autismus
Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung
6., überarb. Auflage 2021
187 Seiten mit 6 Abb. Kart.
€ 29,–
ISBN 978-3-17-041397-9