Sie unterscheiden in Ihrem Buch TrauerÂprozesse, Trauer und VerlustÂschmerz. Weshalb sind für Sie diese UnterÂscheidungen so wichtig?
Trauerprozesse, also TrauerÂwege, sind individuell. Die BasisÂemotion Trauer jedoch ist universell. Viele Menschen verwechseln den VerlustÂschmerz mit der Trauer, dabei sind das zwei gegenÂläufige Aspekte im TrauerÂprozess: Gefühlte Trauer hilft, einen Abschied zu verarbeiten, und insbesondere auch, den VerlustÂschmerz zu verringern. Echte Trauer fühlen zu können, ist somit sehr hilfÂreich! ManchÂmal will das gelernt sein. Trauer ist eine Emotion mit großem Potenzial für Tiefgang und Weisheit; der Trauer wohnt eine nicht zu unterÂschätzende Wachstums- und Heilkraft inne. Diese Haltung ist für mich zentral und vielleicht hilft sie, die weitÂverbreiÂtete Angst vor der Trauer etwas abzubauen.
Trauer hat bekanntermaßen viele Seiten und Gesichter, jeder Mensch trauert anders. Gibt es dennoch „allgemeinÂgültige“ Tipps, wie Menschen, die einem naheÂstehen, in ihrem TrauerÂprozess unterÂstützt werden können?
Es hilft, einfach da zu sein für einen Menschen, und dessen Gefühle weder zu bewerÂten noch vorÂschnell wegÂtrösten zu wollen. Manchmal ist auch eine schlichte UmÂarmung sehr stimmig.
Menschen, die selbst fähig sind zu trauern, und offen sind für das, was sich in einem TrauerÂprozess so alles zeigen kann, sind für Trauernde die beste Hilfe. Hierzu MotiÂvation und InspiÂration zu geben, waren für mich die HauptÂgründe, dieses BuchÂprojekt zu realisieren. Die lebenÂdigen ErfahrungsÂwerte von direkt Betroffenen sind für mich aufschlussÂreicher, als wenn TrauerÂprozesse in starre, theoÂretische KonÂzepte gepresst werden.
Gibt es typische VerhaltensÂweisen, die Menschen zeigen, wenn sie trauern?
Weinen ist sicher etwas, das ErleichÂterung verschaffen kann und zudem die BindungsÂsysteme von MitÂmenschen aktiviert. In unseren BreitenÂgraden sind jedoch Gefühle, insÂbesonÂdere die Trauer, oft schamÂbesetzt. Vor anderen zu weinen ist vielen peinÂlich. So wird Trauer meist nur in den eigenen vier Wänden ausÂgedrückt und nur mit wenigen MitÂmenschen geteilt. ManchÂmal findet sogar ein regelÂrecht isolierender Rückzug statt. Zum Schmerz des Verlustes kommt somit noch der Schmerz der EinsamÂkeit dazu.
Es wäre doch das NatürÂlichste auf dieser Welt: JemanÂdem geht es schlecht und ich nehme ihn in die Arme! Doch der potenziell EmpfanÂgende muss dafür bereit sein.
In einem TrauerÂprozess, den ich wie gesagt von der eigentÂlichen Emotion Trauer klar unterÂscheide, haben auch alle anderen Gefühle, EmpfinÂdungen, Stimmungen und Regungen Platz. Es ist völlig normal, dass dabei vielerlei, auch ganz WiderÂsprüchliches, auftaucht.
Menschen fühlen sich häufig hilfÂlos und unsicher, ob, wann und wie sie auf eine trauernde Person zugehen sollten. Welche Wünsche haben Trauernde in dieser Zeit?
Menschen in einem Trauerprozess sollten immer selbst bestimmen können, was im Moment für sie stimmt und was nicht. Wir können einfach fragen, was genau sich jemand von uns wünscht. Oder auch konÂkrete VorÂschläge machen, z.B.: „Heute NachÂmittag kann ich um 14 Uhr für einen SpazierÂgang zu dir kommen, ist das in Ordnung?“ Und nicht: „Sag mir einfach, wenn du mich brauchst.“ Und dann, auf dem SpazierÂgang, falls sich das nicht von alleine ergibt, könnten wir fragen: „Möchtest du reden oder lieber nicht?“ Viele Trauernde wollen ganz konÂkret und ausführÂlich über den VerstorÂbenen reden – so ist er noch ein wenig da. Wichtig ist, dass wir nicht in eine Hektik verfallen und hohe SelbstÂansprüche aufÂbauen in Bezug darauf, wie wir einer trauernden Person beistehen sollten. Wir können uns merken: Der Lead ist immer bei der trauernden Person. Wir müssen nichts „machen“, sondern vielÂmehr einfach da sein, Raum geben. Uns nicht aufÂdrängen mit Ideen, wie der TrauerÂprozess verlaufen sollte. Denn wir wissen das schlichtÂweg nicht.
Die 25 Porträts geben uns intime Einblicke in TrauerÂprozesse, insbesonÂdere auch zu Aspekten, die im TrauerÂprozess geholfen haben oder eben nicht dienlich waren. Es ist ein großÂartiger Schatz an Erfahrungen zusammenÂgekommen, den wir uns zu Herzen nehmen können. Ich bin den Porträtierten unglaubÂlich dankÂbar, wieviel HilfÂreiches sie uns mit ihren berührenÂden Geschichten zur Verfügung stellen.
Was ging in Ihnen vor und wie gingen Sie damit um, als Sie all diese Abschiede und zum Teil auch traumaÂtischen SchicksalsÂschläge zu Papier brachten?
Anspruchsvoll waren die Tonaufnahmen, die 1:1-Begegnungen, die jeweils mehrere Stunden dauerten und sich intenÂsiv gestalteten. Mich hat jeder einzelne porträtierte Mensch mit seiner jeweils einÂmaligen Geschichte tief berührt. Auch das TransÂkribieren war herausÂfordernd, doch ich war mit dem Schreiben auch kognitiv beschäftigt und somit in einem etwas anderen Modus und nicht nur rein rezeptiv. Als ich dann das Ganze am Schluss mit größerem Abstand en bloc durchlas, merkte ich, dass mir, wie wohl vielen von uns, GeschichÂten ganz besonders unter die Haut gehen, wenn Kinder in Leid involviert sind.
Ich habe im Leben gut (und manchmal unter Schmerzen, zugegeben) gelernt, selbstÂfürsorgÂlich zu sein und schätze wohlÂwollenden, nährenden, inspiÂrierenden Austausch mit anderen Menschen. Bzw. organiÂsiere ich mir Hilfe, wenn zum Beispiel WaldÂspazierÂgänge, Schwimmen und dgl. nicht mehr reichen, um mein NervenÂsystem zu reguÂlieren.
Was hilft Ihnen in der BegleiÂtung eines Menschen, der gerade tiefen seeliÂschen Schmerz durchsteht?
Natürlich muss ich damit umÂgehen können, wenn ein GegenÂüber während eines Gesprächs seine seeÂlische Schmerzen zeigt und weint. Ich nehme glücklicherÂweise gut wahr, wo meine Grenzen sind und wo die Grenzen eines GegenÂübers liegen. Auch kann ich das gemeinÂsame EnergieÂfeld und die aufÂtauchenden Emotionen gut halten und SicherÂheit vermitteln.
Und natürÂlich gibt es eine Art Empathie-Schmerz, der nicht mit Mitleid zu verÂwechseln ist. Sondern er zeigt, dass ich ganz präsent bin, ein weites ToleranzÂfenster für innere Erregung habe, und mich somit echt und tief berühÂren lasse. Wenn ich den seeliÂschen Schmerz eines GegenÂübers nicht einfach „wegÂmachen“ will, zeige ich, dass ich tiefen Respekt vor seiner LeidensÂfähigkeit habe: Sie ist die KehrÂseite einer Medaille, die auf der anderen Seite die LiebesÂfähigkeit trägt. Mit dieser EinÂstellung kann ich einen Menschen ein Stück weit durch seinen Schmerz begleiten. So kann sich dieser wandeln.
Erzählungen von SchicksalsÂschlägen können sehr brutal sein und einen lange verfolgen. Gibt es in Ihrem Buch TrauerÂberichte, die Sie nicht mehr loslassen? Was machte die Arbeit an diesem Buch insÂgesamt mit Ihnen?
Weil ich durch alle Emotionen mitÂgegangen bin wähÂrend der Gespräche, bleibt nichts in einem verÂfolgenÂden Sinne hängen. Es hängt alles davon ab, mit wieÂviel eigenem seeliÂschem Schmerz wir umÂgehen können. In den GespräÂchen war es mir unter anderem auch wichtig, explizit zu fokusÂsieren auf das, was geholfen hat in der oft sehr großen seeliÂschen Not. Ich habe längere Zeit auch RundÂfunksenÂdungen zu existenziÂellen Themen gemacht und immer war ich neuÂgierig, welche Kraft denn in einer Seele steckt, um auch mit widrigen, manchÂmal heftigÂsten Kontexten umzuÂgehen. Ich erfahre berufÂlich viel seeliÂsch SchmerzÂliches und nach einer grundÂlegenden WürdiÂgung desselben gibt es verschieÂdene Mittel und Wege, damit etwas ein wenig besser, ein wenig heiler wird. Step by step – BabyÂsteps, wie es so schön heißt. Ohne den Fokus auf eine in jedem Menschen innewohnende, ganz besonÂdere, schon fast transÂzendent anmuÂtende Kraft zu richten, hätte ich dieses BuchÂprojekt nicht zustande gebracht. Wenn ich an der ZartÂheit und der SchönÂheit der menschÂlichen Seele teilÂhaben kann und das Wunder des Lebens immer tiefer erforÂschen und erleben darf, bin ich glückÂlich. Vielleicht trage ich mit meinem Schaffen sogar ein klein bisschen dazu bei, die Erde zu einem heileren Ort zu machen. Jedenfalls wünsche ich mir das.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Mühe!
Rébecca Kunz
Der Liebe nah – Abschied nehmen und trauern
Erfahrungen und Erkenntnisse von Fachleuten und Betroffenen
2024. 256 Seiten. Kart.
€ 39,–
ISBN 978-3-17-043985-6