Da wächst zusammen, was zusammengehört?

Aktuelle Neuerscheinung zu den ökonomischen Zusammenhängen der europäischen Integration

Im Zuge wirtschaftlicher Inte­gration wurden Aufgaben und Zuständigkeiten auf der Ebene der Euro­päischen Union stetig erweitert: Gemein­samer Markt, gemeinsame Währung, finanzielle Programme der EU, Harmoni­sierungen nationaler Vorschriften sowie die wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung sollen Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand in Europa steigern und dabei helfen, die Heraus­forderungen der „Zeiten­wende“ zu bewältigen. Zugleich und gerade im aktuellen Europa­wahlkampf werden Maßnahmen vertiefter ökonomischer Inte­gration kontrovers diskutiert – die Übertragung von Aufgaben auf die Ebene der EU überzeugt nur dann, wenn diese dort besser angegangen werden können als auf Länder­ebene. Nicht zuletzt die gravierenden weltwirtschaft­lichen Entwicklungen, Risiken wie die jüngste Pandemie, die negativen Auswirkungen des Klima­wandels und Vorkeh­rungen gegen Finanzkrisen zwingen dabei zu gemein­samem europäischem Handeln, erfordern aber auch Reformen innerhalb der euro­päischen Wirtschafts- und Währungsunion und ihres Instrumen­tariums, um deren Potenzial besser nutzen und die wirtschaftliche Entwick­lung der Länder besser fördern zu können. Über den aktuellen Stand, Wirkungen und Entwicklungs­perspektiven europäischer Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik informiert die Neuauflage des Lehr- und Studienbuchs von Prof. Wurzel. Wir nutzen das Erscheinen der Neuauflage zu einem Gespräch mit dem Autor über Europa, seine Möglichkeiten und die Aussichten einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungs­politik in Zeiten globaler Heraus­forderungen und Krisen.

Umschlagabbildung des Buches

Eckhard Wurzel
Europäische Integration – die ökonomischen Zusammenhänge
Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik sowie Reformansätze

2., erw. und aktual. Auflage 2024
405 Seiten mit 62 Abb. und 13 Tab. Kart.
€ 54,–
ISBN 978-3-17-042314-5

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Herr Prof. Wurzel, nicht zuletzt vor dem Hinter­grund des Europawahl­kampfes: Welche Aufgaben sollten denn auf der Ebene der EU gemein­schaftlich angegangen werden, gibt es dazu grundsätzliche Anhaltspunkte aus der Sicht des Ökonomen?

Portrait von Eckhard Wurzel
Eckhard Wurzel

Die gibt es in der Tat, da dezentrale Entschei­dungen und Maßnahmen alleine nicht immer zu den besten Ergebnissen führen. Das ist etwa der Fall, wenn signifikante externe Effekte im Spiel sind. Beispiele sind die Emission von Treibhaus­gasen, deren Wirkung nicht regional begrenzt ist, oder Banken­krisen, die auf weite Teile eines Wirtschafts­raums überschwappen können. Hier sind Regulierung, Politik und Durchsetzung nach gemein­schaftlichen Standards gefragt. Auch gibt es Netzwerk­effekte, insbesondere im Verkehrs- und Energie­bereich, die die ökonomische Leistungs­fähigkeit, die Einkommens­entwicklung, aber auch die Sicherheit länder­übergreifend beeinflussen können. Damit verwandt ist die Bereit­stellung sogenannter öffentlicher Güter, von deren Nutzung einzelne schwer oder gar nicht ausge­schlossen werden können und deren Nutzen auch bei gleichzeitigem vielfachen Konsum erhalten bleibt. Das gilt beispielsweise für die Sicherheitspolitik. Oder wenn EU-Institutionen über die Einhaltung von EU-Wettbewerbsregeln wachen, die wohlfahrts­steigernd wirken, ist das ebenfalls ein öffentliches Gut. Unkoordinierte Politik auf Länder­ebene wird in solchen Feldern nicht oder nur eingeschränkt erfolgreich sein.

Auch gibt es Konstellationen, in denen bestimmte Entscheidungen individuell optimal sein mögen, aber im gesell­schaftlichen Ergebnis defizitär sind. Beispielsweise kann es für ein einzelnes Land optimal erscheinen, wenn alle anderen sich an bestimmte Regeln halten, etwa zur CO₂-Reduktion, man selbst aber nicht. Wenn das für jedes einzelne Land gilt, wird niemand Maßnahmen ergreifen, um den CO₂-Ausstoß zu reduzieren, und alle zusammen verharren im Zustand, der das Klima schädigt. Zur Auflösung eines solchen sogenannten Gefangenen­dilemmas bedarf es zusätz­licher Anreize, die das gewünschte Verhalten begünstigen bzw. Fehl­verhalten sanktionieren. Das setzt in der Regel Kooperation voraus. Schließlich sollte man auch die Hilfe der EU-Länder bei Katastrophen nicht vergessen und auch nicht EU-Hilfen für die wirtschaft­liche Entwicklung, soweit diese effektiv und effizient sind.

Allerdings muss im Einzelfall hinterfragt werden, ob tatsächlich stichhaltige Gründe für Handeln auf Gemeinschafts­ebene vorliegen, oder ob diese nur schwach oder vorgeschoben sind. Denn zentralisierte Entscheidungen, wie sie auf der Ebene der EU getroffen werden, können negativen Anreiz­effekten unterliegen, die ihre Nützlich­keit behindern, ja sogar ins Gegenteil verkehren können. Insgesamt sollte das Subsidiaritäts­prinzip gelten: Die EU sollte nur das über­nehmen, was sie besser kann als die Länder und deren Regionen. Und bei der Bewertung, was das ist, sollten strenge Kriterien angelegt werden. Kompe­tenz­übertragung an die EU bedeutet natur­gemäß eine Abnahme von Kompetenzen auf der Ebene des Staates. Wenn diese nicht nachvoll­ziehbar gerecht­fertigt ist, dann wird sie auf Dauer die Legitimation von EU-Institutionen schwächen.

Kritisch wird auch die Reform des Stabilitäts­pakts gesehen, von dem u. a. auch die Stabilität des Euro als Gemeinschafts­währung abhängt – müssen wir demnächst um unser Geld bangen?

Die Reform strebt an, die Staatsschulden­quoten der Länder in Abhängigkeit vom jeweiligen Konsolidierungsbedarf und von nationalen Ausgaben- und Reformplänen zurückzuführen. Dabei soll die fiskal­politische Über­wachung durch die EU vereinfacht und die Eigenverantwortung der Länder gestärkt werden. Ich sehe nicht, dass das vorgelegte EU-Gesetz diesem Anspruch genügt. Der Ansatz ist unter anderem stark annahmenlastig, hängt ab von Verhandlungen zwischen der jeweiligen Regierung und der EU-Kommission, die mehrere Sachverhalte gleichzeitig regeln sollen, privilegiert Staats­ausgaben, die mit Ausgaben­programmen der EU verknüpft sind, beinhaltet deshalb einen Interessen­konflikt der EU-Kommission, und erlaubt je nach Beurtei­lung der nationalen Ausgaben- und Reformpolitik, den Schulden­abbau in gewissem Umfang in die Zukunft zu verlagern. Die Situation mag mit dem neuen Stabilitäts­pakt besser sein als wenn Fiskal­regeln weiter ausgesetzt blieben, wie dies in den letzten Jahren der Fall war, und das System wurde gegenüber dem ursprünglichen Gesetzes­vorschlag aufgrund der Intervention der Bundes­regierung auch verbessert. Aber es ist nicht klar, wieso das neue System die Akzeptanz stabilitäts­orientierter Fiskalpolitik stärken sollte, und es eröffnet Spielraum, den Schuldenabbau zumindest teilweise zu umgehen. Die Erfahrung legt nahe, dass dieser genutzt werden dürfte.

Man sollte ohnehin nicht alleine auf Fiskalregeln vertrauen. Es kommt ebenso darauf an, regulatorische Rahmen­bedingungen so zu setzen, dass sich Anreize zugunsten einer stabilitäts­orientierten Finanzpolitik ergeben, die Prioritäten setzen muss, statt in immer höhere Verschul­dung auszuweichen. In dieser Beziehung gibt es noch einiges zu tun. Staats­verschul­dung kann in Ordnung sein, aber sie kann auch ein Ausmaß annehmen, in dem sie ökonomische Aktivität lähmt. Und wenn sie relativ zur ökonomischen Leistungs­fähigkeit eines Landes explodiert, dann gefährdet sie die Stabilität des Finanzsystems und die Entwicklung von Einkommen und Beschäftigung. Die Finanzkrise ab 2008 hat in aller Klarheit gezeigt, mit welcher Wucht und Dauer dies syste­mische Krisen verstärken kann.

Wie sehen Sie als Ökonom die geplante Erweiterung der Europäischen Union auf dem Balkan?

Die EU kann den Ländern helfen, die Grundlagen für wirtschaft­liche Entwicklung und Wohlstand zu schaffen. Und es ist klar, dass das auch geopolitisch von hoher Bedeutung ist. Gleichzeitig darf sie ihre eigene Handlungs­fähigkeit nicht gefährden und sich selbst auch nicht finanziell überfordern, zumal sich schon die jetzige EU großen Heraus­forderungen gegenüber­sieht. Die eigene Konsoli­dierung der EU muss deshalb Vorrang vor einer Erwei­terung haben, die Entscheidungs­prozesse verkomplizieren und die Hetero­genität ökonomisch, rechtlich und administrativ deutlich erhöhen würde. Wird das EU-System überdehnt, riskiert es auch die Zustimmung zu seinen Institutionen; unguter Nationalismus kann dann seine Renaissance erleben.

EU-Mitgliedschaft wäre zur Unter­stützung der wirtschaft­lichen und politischen Entwicklung der Länder durch die EU aber auch gar nicht nötig, da die Balkanländer auch über Verträge mit der EU eine Gemeinschaft eingehen könnten, wenn sie einschlägige Bedingungen erfüllen. Island, Liechtenstein und Norwegen sind nicht EU-Mitglieder, aber als Länder des Europäischen Wirtschafts­raums EWR institutionell und wirtschaftlich eng mit der EU verbunden. Das gilt ähnlich für die Schweiz, und zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich gibt es ein umfangreiches Kooperations­abkommen. Es verwundert, dass ein Ansatz nach diesem Muster in der Balkan­politik der EU keine ernsthafte Rolle spielt. So oder so setzt dauer­hafte wirtschaft­liche Entwicklung eigene Reform­anstrengungen voraus. Wenn sich Estland innerhalb der EU auf nachhaltigem Erfolgskurs befindet und seine im inter­nationalen Vergleich besonders scharfe Rezession 2008/09 während der Finanzkrise schnell überwunden hat, so fußt das weitgehend auf Reformpolitik, die erfolgreiche Bekämpfung von Korruption aus Sowjet­zeiten eingeschlossen.

Der europäische Wirtschaftsraum steht im wachsenden Wettbewerb mit dem chinesischen und amerikanischen Wirtschafts­raum, deren Regierungen – so macht es zumindest den Eindruck – schneller, entschiedener und weniger skrupulös beim Schutz des heimischen Marktes und der Förderung nationaler Anbieter agieren. Sehen Sie hier über das bisherige Maß hinaus­gehenden Handlungs­bedarf bei der EU-Kommission?

Über die Aufbau- und Resilienzfazilität der EU steht ja ein hohes Subventionsvolumen zur Verfügung, das digitale und grüne Transformation unterstützen und die Wirtschaft stärken soll. Die EU kann insbesondere eine positive Rolle bei der Forschungsförderung spielen. Forschung ist mit positiven externen Effekten verbunden, die allen EU-Ländern zugutekommen können. Darüber hinaus sind positive Netzwerk­effekte bei der Energieversorgung für die Wettbewerbs­fähigkeit der Industrie von Bedeutung, vor allem angesichts der angestrebten Verminderung der CO₂-Emission.

Aber es geht um mehr als Finanzen. Es ist wichtig, regulatorische Rahmenbedingungen so zu setzen, dass sie die Wettbewerbsfähigkeit des gemeinsamen Wirtschaftsraums fördern. Dazu würde gehören, endlich ernst zu machen mit dem Abbau bürokratischer Lasten, die einen signifikanten Teil der Ressourcen binden und produktivitäts­mindernd umlenken und so das Produktions­potenzial schwächen. Es sind büro­kratische Instrumente der Lenkung und Belastung von zweifelhaftem oder negativem Nutzen, die genaueres Hinsehen und Revision verdienen, wenn von Wettbewerb mit anderen Wirtschafts­räumen die Rede ist. Signifikante jüngere Beispiele auf der Ebene der EU sind die Lieferketten­richtlinie und die EU-Taxonomie zum Zweck der Wirtschafts­steuerung hin zu „nachhaltigen“ Aktivitäten – letztere ein für ineffiziente Ressourcenallokation anfälliges, kostspieliges und dem umwelt­politischen Potenzial des Handels mit CO₂-Emissions­rechten weit unterlegenes bürokratisches Vehikel.

Und es wäre nicht zielführend, die europäische Industrie vor Wettbewerb schützen zu wollen, in dem Glauben, dies könne zum Aufbau industrieller europäischer „Champions“ beitragen. Warum sollte eine Verminderung des Wettbewerbs auf den europäischen Märkten Unternehmen fitter machen für den weltweiten Wettbewerb? Im Gegenteil vermindert nachlassender Wettbewerbsdruck die Anreize für Innovationen und Effizienz­steigerungen. Deshalb wäre es kontra­produktiv, wenn das EU-Wettbewerbs­recht aufgeweicht würde.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!


Prof. Dr. Eckhard Wurzel lehrt Europäische Ökonomie an der Universität Konstanz. Zuvor leitete er u. a. das Referat Europäische Union und Eurogebiet im Economics Department der OECD.

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