Psychologie der Rechtsradikalisierung –
Interview mit Frau Professorin Walther und Herrn Professor Rothmund

Rechtsradikale Gedanken und Verhaltens­weisen werden nicht nur immer häufiger sicht­bar, sie werden von Teilen der gesell­schaft­lichen Mitte auch toleriert oder sogar aktiv unter­stützt und reichen von Beleidi­gungen, Hass und Gewalt gegen PolitikerInnen und Minoritäten bis hin zu einer Ablehnung der Demokratie. Das Heraus­geberwerk „Psychologie der Rechts­radikalisierung“ setzt sich aus psycho­logischer Perspektive mit diesen Radikalisierungs­prozessen auseinander.

Umschlagabbildung des Buches

Tobias Rothmund/Eva Walther (Hrsg.)
Psychologie der Rechtsradikalisierung
Theorien, Perspektiven, Prävention

2024. 237 Seiten mit 4 Abb. und 1 Tab. Kart.
€ 35,–
ISBN 978-3-17-043997-9

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Frau Professorin Walther, Herr Professor Rothmund, der Rechtsruck bei der Europawahl 2024, die Zunahme physischer und verbaler Gewalt gegen Minder­heiten und Anders­denkende: Wie können wir die aktuellen Geschehnisse und Strömungen einordnen?

Prof. Dr. Eva Walther
Prof. Dr. Eva Walther

Eva Walther: Die Polykrisen aus Krieg, Post-COVID, globaler Erwärmung und Migration sind wahr­scheinlich die größten Heraus­forderungen für die westlichen Länder seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Mehrfach­krisen betreffen viele Menschen, die aufgrund der Globali­sierung und der zunehmenden Ungleich­heit bereits unter onto­logischer Unsicher­heit leiden, also an einem Gefühl der Diskonti­nuität in ihrem eigenen Leben. Sie haben das Gefühl: Nichts bleibt, wie es ist – alles wird immer schlimmer. Bürger, Institutionen und Regierungen sind gleicher­maßen mit einer Realität konfrontiert, in der Unsicher­heit allgegen­wärtig ist, weil es auf viele Probleme, wie auf die Erd­erwärmung, noch keine wirklichen Antworten gibt. In einer solchen Zeit werden politische Einstellungen vermehrt als Teil der eigenen Identität wahrgenommen. Personen, die eine andere Meinung haben, werden somit als Angriff auf die eigene Person inter­pretiert, damit lässt sich ein Teil der Aggression erklären.
Tobias Rothmund: Unsere Gesellschaft verändert sich aktuell in zweierlei Weise. Zum einen sehen wir eine politische Verschie­bung nach Rechts. Dies drückt sich in den Wahl­ergebnissen aus aber auch in der Art wie über politische Themen gesprochen wird und wie das Sagbare (bspw. im Kontext des Sylt-Videos) in eine rechts­extreme Richtung verschoben wird. Zum anderen sehen wir aber auch eine Art Polarisierung. Es gibt eine Gegen­bewegung zur Rechts­radikalisierung. Dies kam beispielsweise in den Demonstrationen für Vielfalt und Demokratie Anfang des Jahres zum Ausdruck. Beide Entwicklungen beeinflussen sich gegenseitig.

Warum sind rechtsextreme Einstellungen in der Bevölke­rung und gesellschaftliche Desintegrations­prozesse so verbreitet? Welche Rolle spielt das Erleben von Ungerechtig­keit?

Prof. Dr. Tobias Rothmund
Prof. Dr. Tobias Rothmund

Tobias Rothmund: Rechtsextreme Einstellungen sind in der deutschen Gesell­schaft seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie ganz verschwunden. Sie wurden im besten Falle politisch eingehegt. Seit ungefähr 20 Jahren treiben jedoch verschiedene Entwick­lungen die Rechts­radikalisierung voran, hierzu zählen die digitalisierte Medien­landschaft, die wachsende ökonomische Ungleich­heit sowie eine beginnende Ressourcenknappheit, die durch sich über­lagernde internationale Krisen ein zunehmendes Bedrohungs­potential entfaltet. In dieser Entwicklung finden populistische und rechts­extreme Positionen immer leichter Gehör und gewinnen dadurch an Einfluss.
Eva Walther: Ungleichheit ist ein Einfallstor für rechts­extreme Ideologien, weil sie nach Schuldigen ruft und damit von politischen Akteuren instrumentalisiert wird. In einer merito­kratisch durch­wirkten Gesell­schaft, in der den Menschen selbst, und nicht etwa den Umständen, die Schuld für mangelnden sozialen Aufstieg oder mangelnden Erfolg zugeschrieben wird, ist es schmerz­lindernd, wenn rechts­extreme Gruppen dafür andere, vermeint­lich böswillige Akteure, wie Eliten oder Minder­heiten, verantwortlich machen.

Wie wirken rechtsextreme Ideologien?

Tobias Rothmund: Politische Ideologien stellen stark vereinfachte Analyse- und Deutungs­strukturen zur Verfügung. Im Falle von rechtsextremen Ideologien ist das zum einen die Idee, dass „früher alles besser war“ und die Lösung für politische Probleme in einer Rück­kehr zu traditionellen Lebens­weisen liegen sollte. Eine zweite zentrale Idee besteht im Recht des Stärkeren. Wer stärker oder auch einfach in der Mehr­heit ist, kann, darf und soll über Andere dominieren und diesen die eigene Lebens­weise aufzwingen. Im Umkehrschluss führt dieses sozial­darwinistische Gesellschafts­modell dazu, dass der Kampf um Macht, Status und Mehrheit eine zentrale Rolle im rechts­extremen Denken einnimmt.
Eva Walther: Die italienische Postfaschistin Giorgia Meloni wirbt mit dem Slogan: Gott, Vaterland und Familie. Diese mythischen Begriffe rekurrieren auf starke Narrative, die Geborgen­heit und Ordnung signalisieren und gleich­zeitig die Grenzen materieller Werte zur Daseins­bewältigung anerkennen. Zudem wird dadurch markiert, wer nicht zur eigenen Gruppe gehört. Oft wird in diesem Zusammen­hang von Neotriba­lismus gesprochen. Menschen bilden auf der Basis ihrer (Rechtsaußen-)Ideologie enge (auch rein internetbasierte) Gemeinschaften mit hohem Zugehörigkeitsgefühl einerseits und hohem Abgrenzungs­willen andererseits. Diese wirken wie eine Trutzburg gegen die Zumu­tungen der Moderne. Die rechte Ökodorf­bewegung ist ein Beispiel für Neotribalismus.

Sie schreiben, dass rechtsextreme Ideologien eine „psychologische Medizin“ seien. Das klingt auf den ersten Blick wie etwas Positives. Was können wir uns darunter vorstellen?

Tobias Rothmund: Die motivationale Quelle für Rechts­radikalisierung stellen subjektive Erfahrungen oder Erwartungen von sozialer Benach­teiligung oder Bedeutungs­verlust dar. Rechts­extreme Ideologien sind insofern eine Art „psychologische Medizin“, als dass sie eine Deutungs­struktur für diese Erfahrungen liefern. Diese Deutungen entlasten den Einzelnen, indem sie die Verantwortung Fremdgruppen (bspw. PolitikerInnen oder MigrantInnen) zuschreiben und gleichzeitig Selbstwirksamkeit stärken. Man kann also von einer Art Selbst­ermächtigungs­bewegung sprechen. Diese Medizin hat allerdings eine rein psycho­logische Wirkung und ändert nichts an den realen Lebensverhältnissen. Sie wirkt auch nur, solange es glaubhaft bleibt, dass der Kampf gegen die Außen­gruppe zu einer Verbesserung der Lebens­verhältnisse führt. Insofern handelt es sich am Ende eher um ein Placebo als um eine echte Medizin.
Eva Walther: Die positive Wirkung entfaltet sich vor allem für rechtsextreme Gruppen, die so politische Macht generieren. Gegen den Weltbewältigungsstress und die Abstiegsängste der Menschen bieten diese Gruppen vereinfachte Erzählungen von Gut und Böse aber auch Selbstaufwertung durch Nationalismus und Abwertung von Eliten und Minderheiten. Man sollte die Verführungskraft der rechtsextremen Ideologien nicht unterschätzen, denn sie bewirtschaften starke Emotionen und setzen damit der oft bürokratisch anmutenden Politik echte Erlebniseffekte entgegen. Zudem versprechen sie nichts weniger als die Rückkehr zu einem geordneten Leben. Auch wenn die Menschen selbst nicht ganz daran glauben wollen, so ist allein die Fantasie davon vorübergehend schmerzlindernd.

Im Kontext der Rechtsradikalisierung spielt nicht nur physische Gewalt – man denke an den Mord an Walter Lübcke, die Anschläge und Morde des NSU oder die jüngsten Prügelattacken auf PolitikerInnen im Zuge der Europawahl 2024 –, sondern auch verbale Gewalt eine Rolle. Welche Formen politischer Gewalt lassen sich unterscheiden und wie kann die Bereitschaft zur Anwendung politischer Gewalt erklärt werden?

Tobias Rothmund: Wir unterscheiden im Buch zwischen verschiedenen Formen und Graden der politischen Gewalt. Gemeinsam ist diesen, dass Gewalt als Instrument zur politischen Einflussnahme legitimiert und eingesetzt wird. Neben den bekanntesten Formen des Rechtsterrorismus zählen dazu auch Hassverbrechen gegen Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit oder Hassrede als niederschwelliger Form der kommunikativen Abwertung. Auch im Kontext von sozialen Bewegungen sind die Rahmenbedingungen für politische Gewalt oft besonders günstig. Dies hat damit zu tun, dass Gewalt durch die Erfahrungen von Deprivation bzw. die geteilte ideologische Deutung und Zielvorstellung als gerechtfertigt und angemessen bewertet wird. Im Gruppenkontext verstärken sich Menschen häufig gegenseitig in diesen Annahmen.

Welche Rolle spielt die Persönlichkeit bei Prozessen der Rechtsradikalisierung? Gibt es bestimmte Merkmale oder Eigenschaften, die die Radikalisierung begünstigen?

Tobias Rothmund: Menschen unterscheiden sich in ihrer Anfälligkeit für rechtsextremes Gedankengut. Die Ursachen bzw. Erklärungsansätze hierfür sind vielfältig. Ein Ansatzpunkt besteht in der individuellen Sensibilität für Benachteiligung. Manche Menschen fühlen sich sehr leicht unfair behandelt oder reagieren emotional besonders stark auf die Erfahrung von Benachteiligung. Speziell für diese Menschen scheinen rechtsradikale Deutungs- und Handlungsansätze eine besondere Attraktion zu entfalten.
Eva Walther: Unsere Forschung zeigt, dass Personen mit autoritärer Persönlichkeit besonders dazu neigen, rechtsgerichtete politische Einstellungen zu entwickeln. Ein Grund dafür ist, dass autoritäre Personen besonders anfällig für Bedrohungsempfindungen im allgemeinen und Gefühle von relativer Deprivation im Besonderen sind. Gleichzeitig sind diese Personen besonders feindselig Personen gegenüber, die ihre Normen und Werte in Frage stellen.

Eine groß angelegte Kampagne in der Gesamtbevölkerung oder spezielle Maßnahmen für gefährdete bzw. bereits tief in Radikalisierungsdynamiken verwickelte Personen: Welche Ansatzpunkte zur Radikalisierungsprävention sehen Sie?

Eva Walther: Beide Kampagnenformen müssen ineinandergreifen und auf weit grundlegenderen kommunikativen Veränderungen aufbauen, die auf zwei Säulen beruhen sollten. Die eine Säule kann mit dem Habermas’schen Begriff der Entfeindung grob umrissen werden. Es reicht nicht, einen Teil der Bevölkerung als Symptomträger zu identifizieren, den es von schwerer politischer Krankheit zu heilen gilt bzw. dessen Krankheit präventiv verhindert werden soll. Vielmehr müssen ernsthaft die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Menschen in den Blick genommen werden, nicht nur, aber vor allem derjenigen, die sich antidemokratischen Ideologien zuwenden. Mit ihnen muss gleichberechtigte Kommunikation stattfinden, um epistemisches Vertrauen aufzubauen. Damit ist das Vertrauen gemeint, dass die Rede der anderen Person aufrichtig, bedürfnisrelevant und wahr ist. Das ist eine große Herausforderung in Zeiten, in denen Fiktion häufig Fakten ersetzt. Gerade deswegen muss es das oberste Ziel politischer Kommunikation sein, epistemisches Vertrauen (wieder-)herzustellen. Die andere Säule ist, dass die normativen Grenzen des Grundgesetzes mit aller Wucht verteidigt und Strafmaßnahmen bei Verstößen umgesetzt werden müssen, um der schleichenden Normalisierung demokratiefeindlicher Ideologie entgegenzuwirken.
Tobias Rothmund: Wir appellieren in dem Zusammenhang für einen Mix an Maßnahmen, die an unterschiedlichen Zeitpunkten ansetzen. Das Konzept der entwicklungsorientierten Radikalisierungsprävention von Andreas Beelmann liefert hier einen wertvollen theoretischen Rahmen. Gleichzeitig muss der Erfolg unterschiedlicher Maßnahmen wissenschaftlich beleuchtet und analysiert werden, damit wir mehr über deren Wirksamkeit lernen.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

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