Die Herausgeberinnen des ÃœberblicksÂwerks zur Systemischen Therapie, Maria Borcsa und Bettina Wilms, erläutern in unserem Interview die VorausÂsetzungen, AnwendungsÂbereiche sowie die zentrale Idee dieser Psychotherapie-Disziplin, bieten hilfreiche Tipps für Neueinsteiger:innen und plädieren für eine kooperative ZusammenÂarbeit zwischen den verschieÂdenen psychoÂtherapeutischen Ansätzen.
Maria Borcsa/Bettina Wilms (Hrsg.)
Systemische Therapie
AnwendungsÂbereiche in der psychiatrisch-psychoÂtherapeuÂtischen Versorgung
2024. 328 Seiten mit 13 Abb. und 2 Tab. Kart.
€ 69,–
ISBN 978-3-17-041162-3
Was versteht man unter der Systemischen Therapie?
Die Systemische Therapie ist eine psychoÂtherapeuÂtische HerangehensÂweise, die psychische Gesundheit im Kontext von sozialen Beziehungen betrachtet. Menschen sind immer eingeÂbettet in soziale Systeme, sei es die HerkunftsÂfamilie, eine PartnerÂschaft oder andere BeziehungsÂformen. Ihre Interaktionen stehen im Mittelpunkt des Interesses der Systemischen Therapie. Das heißt, die interpersonalen Aspekte – also das, was sich zwischen den Menschen vollzieht – ist von besonderer Bedeutung. Die VerhaltensÂweisen von Menschen in einem System beziehen sich aufeinander wie in einem Mobile – wenn sich ein Teil bewegt, setzt es die anderen Teile in Bewegung. Probleme und HerausÂforderungen werden also nicht indiviÂdualisiert betrachtet, sondern im ZusammenÂhang mit den Beziehungen und InterÂaktionen im jeweiligen (Behandlungs-)System. Die Therapeut:innen in der Systemischen Therapie stellen zum Beispiel zirkuläre Fragen, um die Dynamik von Beziehungen zu verstehen und dem System neue oder ergänzende InformaÂtionen zur Verfügung zu stellen. Anstatt nach Ursachen für ein Problem zu suchen, wird nach WechselÂwirkungen und ZusammenÂhängen zwischen den Verhaltens- und ErlebensÂweisen der beteiligten Personen gefragt. Im GegenÂsatz zu problemÂorientierten Ansätzen konzentriert sich die Systemische Therapie darauf, Ressourcen und LösungsÂmöglichkeiten zu identifizieren. Sie legt Wert auf die gegenÂwärtige InterÂaktion und Erfahrung der Beteiligten. Vergangene EreigÂnisse werden im Kontext der aktuellen Dynamik und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Zukunft betrachtet.
Wann sollte eine Systemische Therapie in Betracht gezogen werden?
Aufgrund der Expertise im MehrÂpersonensetting und bei StörungsÂkonstellationen, die über die Behandlung in einem individualÂpsychotherapeutischen Verfahren hinausÂweisen, sollte eine Systemische Therapie immer dann in Betracht gezogen werden, wenn Beschwerden im WesentÂlichen nicht nur eine Person betreffen. Die Systemische Therapie hat spezielle methoÂdische Kompetenzen in der Arbeit mit Familien und Menschen, die in Beziehung zueinander stehen. Der ChronifiÂzierung von Problemen kann hierdurch vorgebeugt werden und durch die geteilten VerantwortÂlichkeiten im BehandlungsÂsetting (Partnerschaft, Familie) wird die StigmaÂtisierung einzelner Personen vermieden. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ist dieser SachÂverhalt wichtig, aber auch bei Menschen, die in komplexen Familien- und/oder UnterstützungsÂsystemen leben. Dann sollte unbedingt an eine Systemische Therapie gedacht werden.
Henry Richardson schrieb im Jahr 1945 ein Buch mit dem Titel „Patients have Families“. Inwiefern ist die Erkenntnis, dass „Patient:innen Familien haben“, zentral für den oder die systemische Therapeut:in?
Die Wurzeln der Systemischen Therapie in ihrer familienÂtherapeutischen Entwicklung werden im Buch ebenso umrissen, wie die psychiatrischen Ursprünge der Systemischen Therapie. Die Nähe zu der FestÂstellung, dass Patienten Familien haben, ist für die PsychoÂtherapie wie für die Psychiatrie gleichsam essenziell wie weiterÂhin nicht selbstÂverständlich. Dabei ist in der WeiterÂentwicklung systemischer Konzepte unter anderem der BeziehungsÂaspekt sehr bedeutÂsam gewesen: einer der ProtagoÂnisten der sog. „Mailänder Schule“ hat dies sehr deutlich umrissen: „Wir sollten nicht vergessen, dass systemische Therapie nicht gleichÂbedeutend ist mit FamilienÂtherapie. Systemische Therapie ist vielmehr ein Ansatz des Denkens in Beziehungen“ (Cecchin 1996). Daher geht es nicht nur um die Frage, ob Patient:innen Familien haben, sondern es geht um die sozialen Systeme (z. B. Partnerschaften, ArbeitsÂbeziehungen etc.), in denen sich unsere Patient:innen bewegen. Und – siehe oben – dies ist weder in der Erkenntnis noch in der Umsetzung in die therapeutische Praxis trivial oder alltagskonsentiert: Die KontextÂorientierung ist immer wieder neu zu erarbeiten und markiert einen der wesentÂlichen Unterschiede zu anderen psychoÂtherapeutischen Verfahren. Wie zentral dies für die jeweiligen Behandler:innen ist, entscheidet sich aber immer angepasst an den jeweiligen Behandlungsprozess.
Welche zentralen Aspekte der systemischen Praxis werden im Buch vorgestellt?
Die Entscheidung, das Buch in die drei Hauptkapitel – VorausÂsetzungen, AuftragsÂlagen und interÂnationale Konzepte – zu gliedern, basiert auf der ÃœberÂzeugung, dass ein tiefes Verständnis der SysteÂmischen Therapie sowohl theoretische als auch praktische Aspekte erfordert. Die „VorausÂsetzungen“ bieten den Lesenden eine solide GrundÂlage über die Prinzipien und Theorien der systeÂmischen Arbeit. Die „AuftragsÂlagen“ sind entscheidend, da sie die Komplexität und Dynamik der realen therapeutischen Situationen widerÂspiegeln. Schließlich ermöglichen die „interÂnationalen Konzepte“ einen Blick über den (nationalen) Tellerrand und zeigen, wie systemische Ansätze außerhalb Deutschlands angewendet werden. Diese Struktur soll den Lesenden helfen, ein umfassendes Bild von der Praxis der Systemischen Therapie zu entwickeln.
Welche Anwendungsbereiche gibt es und wie kann die Systemische Therapie in den verschiedenen Bereichen helfen?
Im Kontext von PsychoÂtherapie ist die Systemische Therapie eine wichtige MöglichÂkeit, Menschen zu helfen, die in komplexen LebensÂsituationen nach Hilfe suchen. Hierbei bezieht sich der Begriff der Komplexität vor allem auf die Anzahl der betroffenen BezugsÂpersonen und/oder die InvolviertÂheit unterschiedlicher HilfeÂsysteme.
Wir haben aber jenseits des AnwendungsÂbereichs „Therapie“ oder „Behandlung“ im SGB V (vertragsÂpsychotherapeutisch und mit den Mitteln des Krankenhauses) auch die AnwendungsÂbereiche an typischen Schnittstellen zu diesen Phasen einer Behandlung von krankheitsÂwertigen Störungen in den Mittelpunkt der AufmerksamÂkeit gerückt: Dabei geht es uns im Rahmen der Prävention psychischer Störungen vor allem um Angebote von BeratungsÂstellen und deren SchnittÂstellen, z. B. hin zu Akteuren des SGB V, also niederÂgelassenen Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen und Kliniken, aber auch um spezielle Konzepte zur Prävention. Hierbei steht die Navigation im Hilfesystem im Mittelpunkt. Hierfür wie auch in der Rehabilitation bietet bei Involviertheit unterÂschiedlicher Helfer:innen, – ggf. auch in unterschiedlichen SozialgesetzÂbüchern wie z. B. der EingliederungsÂhilfe –, eine systemische Perspektive und der systemische MethodenÂkanon gute AnschlussÂmöglichkeiten gemeinsam mit Klient:innen hilfreiche Veränderungen einzuleiten.
Die Systemische Therapie begegnet komplexen Auftragslagen und MultiproblemÂkonstellationen. Was würden Sie „Neulingen“ in der systemischen Arbeit bei den Herangehens- und Vorgehensweisen raten?
Hier unsere Ratschläge für „Neulinge“:
Wie kann verhindert werden, dass sich systemische Therapeut:innen zunehmend auf EinzelÂsettings konzentrieren?
Auch hier gilt leider: Was bezahlt wird, wird gemacht. Letztlich wird es darauf ankommen, weiterhin beharrlich auf eine spezielle Finanzierung des Mehrpersonensettings hinzuarbeiten und die Kolleg:innen zu ermuntern, bis dahin an der WeiterÂentwicklung des MehrpersonenÂsettings im Kontext von Behandlungen im RichtlinienÂverfahren zu arbeiten. Um zu verhindern, dass sich systemische Therapeut:innen zunehmend auf Einzelsettings konzentrieren und die systemische Perspektive in ihrer GanzheitlichÂkeit verlieren, können zudem verschiedene Strategien und Maßnahmen ergriffen werden:
Wie kann Ihrer Meinung nach eine Kooperation zwischen „Systemiker:innen“ und „Nicht-Systemiker:innen“ gelingen?
Eine effektive Zusammenarbeit zwischen „Systemiker:innen“ und „Nicht-Systemiker:innen“ kann durch folgende Elemente unterstützt werden:
Aber vermutlich ist das wichtigste, die jeweils eigenen Annahmen nicht zu unverrückÂbaren Wahrheiten zu erklären und stattdessen andere (dazu gehören auch professionell begründete) Sichtweisen immer wieder als wichtige Hinweise auf dem Weg zu hilfreichen Lösungen zu verstehen.
Vielen Dank für das interessante Gespräch!
Prof. Dr. phil. Maria Borcsa ist Professorin für Klinische Psychologie an der Hochschule Nordhausen; Institut für Sozialmedizin, RehabilitationsÂwissenschaften und Versorgungsforschung.
Dr. med. Bettina Wilms ist Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, PsychoÂtherapie und Psychosomatik am Carl von Basedow-Klinikum Saalekreis.