Frau Dr. Preißmann, in Ihrem neuen Buch haben Sie sich mit „Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus“ beschäftigt. Könnten Sie uns bitte kurz erzählen, wie Sie auf dieses Thema gekommen sind?
Lange hat man sich ja vor allem darum gesorgt, dass Menschen mit Autismus in Schule, Beruf und Alltag irgendwie zurechtkommen, und das ist und bleibt immens wichtig. Aber immer mehr zeigt sich doch, dass das nicht genug ist, dass ein „Funktionieren“ eben nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit Lebenszufriedenheit, und dass Menschen mit Autismus in manchen Bereichen andere Bedürfnisse haben als andere Menschen, um glücklich zu sein. Es war mir also sehr wichtig, in Buchform herauszuarbeiten, was sich die Betroffenen wünschen und welche Maßnahmen geeignet sind, um auch ihnen ein schönes und glückliches Leben zu ermöglichen.
Was ist das Besondere an Ihrem Buch?
Glück ist etwas sehr Individuelles. Mein Buch enthält deshalb neben theoretischen Ausführungen über die Erfordernisse von Menschen mit Autismus vor allem zahlreiche Berichte selbst betroffener Menschen, die erläutern, was für sie zum Glücklichsein zählt.
Die vielfältigen Möglichkeiten, die das Leben bietet, sollen im Zuge der Inklusion ja auch Menschen mit Autismus offen stehen. Es gilt also, individuelle Lebensentwürfe auszuwählen und zu begleiten – gemeinsam mit dem jeweiligen Betroffenen. Dafür ist es notwendig, nach den ganz eigenen Wünschen, Zielen und Bedürfnissen zu fragen und pädagogische, therapeutische und lebenspraktische Maßnahmen diesen Herausforderungen anzupassen. Dabei soll das Buch eine Hilfestellung und Anregungen bieten.
Im Buch kommen viele verschiedene Menschen mit Autismus zu Wort, die berichten, was für sie Glück und Lebenszufriedenheit bedeutet. Wie haben Sie diese Menschen gefunden und was hat Sie besonders an ihren Antworten interessiert?
Es war mir wichtig, viele Menschen zu Wort kommen zu lassen, denn auch Menschen mit Autismus sind sehr unterschiedlich, jeder hat eigene Vorstellungen für sein Leben. Ich wollte deshalb nicht zu viele Vorgaben machen, sondern einfach schauen, was kommt. Und es kamen wirklich großartige und ausdrucksstarke Texte, die zeigen, dass autistische Menschen durchaus eine Vorstellung davon haben, was sie glücklich macht. Außerdem – und das ist vielleicht noch wichtiger – haben mir sehr viele Betroffene, als sie mir ihre Texte schickten, geschrieben, wie wichtig und wie gut es für sie war, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Sie berichteten, dass es ihnen sehr gut getan habe, ihre eigenen Bedürfnisse äußern zu dürfen. – Schade, dass das noch nicht selbstverständlich ist, aber vielleicht trägt mein Buch ein bisschen dazu bei. Das würde mich sehr freuen.
Haben Menschen mit Autismus eine andere Vorstellung von Glück und Lebenszufriedenheit? Was ist ihnen besonders wichtig?
Ganz allgemein ist ein Mensch umso glücklicher, je mehr die Realität seinen eigenen Vorstellungen von einem gelungenen Leben entspricht. Und umgekehrt fühlt sich unglücklich, wer erkennt, dass Wünsche und Lebenswirklichkeit nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. Oft ist dies dann der Fall, wenn man bemerkt, dass andere es vermeintlich besser haben, dass sie genau das Leben führen können, das man sich auch selbst erträumt hat und das einem versagt bleibt. Viele autistische Menschen beschreiben genau dies. Im Prinzip sind sie nicht einsam, wenn sie alleine sind, aber schwer wird es dann, wenn sie andere Menschen unbeschwert in Gruppen zusammen sehen. Eigentlich ist man zufrieden damit, noch bei den Eltern zu leben; wenn man aber sieht, wie sehr die Gleichaltrigen ihre Freiheit in der eigenen Wohnung genießen, wünscht man sich das auch. Möglicherweise ist dieses Vergleichen der Grund dafür, dass viele Menschen mit Autismus dann, wenn man sie nur kurz nach ihrer Lebenszufriedenheit befragt, lediglich relativ niedrige Zufriedenheitswerte angeben.
Gibt man ihnen aber die Möglichkeit, sich ausführlicher damit zu beschäftigen, scheint sich dies zu ändern. Die Texte der betroffenen Menschen in meinem Buch zeigen doch recht deutlich Bilder von glücklichen Menschen. Dies war auch für mich ein bisschen überraschend. Gewiss ist nicht immer alles gut und schön und schon gar nicht leicht. Aber Menschen mit Autismus neigen dazu, vor allem negative Situationen im Gedächtnis zu behalten und darüber zu grübeln. Erst die ganz gezielte Beschäftigung mit positiven Aspekten gibt ihnen die Möglichkeit, auch dies bewusster wahrzunehmen. Das scheint mir ein sehr wichtiger Ansatz, auch in therapeutischer Hinsicht.
Eine Betroffene beschreibt sehr schön, wie wichtig für das Glücklichsein ein guter Kompromiss ist: „Ich möchte gerne unabhängiger sein, mehr Situationen im meinem Leben alleine bewältigen, unbelastet am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, mir nicht vorher überlegen müssen, wie ich eine bestimmte Situation werde bewältigen können, spontaner sein. Trotzdem weiß ich, dass ich auch mit Autismus glücklich sein kann (…). Da es Dinge gibt, die ich voraussichtlich niemals haben werde, liegt das Glück auch darin, die Ansprüche nicht zu hoch anzusetzen und mit dem zufrieden zu sein, was ich habe“ (I. Köppel, in: Preißmann 2015: Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus).
In jedem Einzelfall gilt es außerdem, den Spagat zu meistern zwischen sinnvoller Individualität und notwendiger Anpassung, um in Schule, Beruf und Gesellschaft dabei sein zu können, wenn man das möchte. Es zeigen sich aber Tendenzen, dass es sinnvoll sein kann, dabei vor allem das Lebensalter zu berücksichtigen. Autistische Schüler wünschen sich doch in hohem Maße, so zu sein wie die anderen. Dann kann es notwendig sein, ihnen dabei zu helfen, sich im Klassenverband zurechtzufinden, und ihnen Kompetenzen zu vermitteln, die man in diesem Lebensabschnitt braucht, um dabei sein zu können. Im Erwachsenenalter dagegen haben die meisten Menschen mit Autismus den starken Wunsch, sich nicht mehr länger anpassen zu müssen, sondern so sein zu dürfen, wie sie sind, weil sie merken, dass alles andere zu viel Stress bedeutet, und weil sie ihr Lebensglück in diesem Lebensabschnitt eher über eine größtmögliche Individualität definieren. Viele Betroffene beschreiben, dass der Druck, sich altersgemäß zu verhalten, mit der Zeit geringer und das eigene Verhalten authentischer wurde. Dies wird von zahlreichen erwachsenen Menschen mit Autismus als das größte Glück ihres Lebens beschrieben. Sie brauchen Unterstützung dabei, ihre Individualität zu leben und den für sie passenden Lebensentwurf zu finden. Das Ziel dabei ist dann eben nicht die „Normalisierung“, also die Fähigkeit, nicht aufzufallen, sondern es geht darum, ein für die eigene Person passendes Leben zu führen.
Was hat dazu beigetragen, dass das Leben autistischer Menschen heute individueller ist? Wo sehen Sie noch Verbesserungsmöglichkeiten?
Es ist wichtig, dass man den Betroffenen die Möglichkeit gibt, sich mit „Gleichgesinnten“ auszutauschen, etwa in Selbsthilfegruppen, die es inzwischen ja überall im deutschsprachigen Raum gibt, und sich auch selbst zur eigenen Problematik zu äußern. Selbstbewusstsein und auch Wohlbefinden lassen sich dadurch ganz erheblich steigern. Auch die immer besseren therapeutischen Möglichkeiten tragen dazu bei, dass heute vieles als Lebensentwurf bedacht werden kann, was früher undenkbar schien. Und schließlich ist hier natürlich auch die Inklusion zu nennen, die das ganz selbstverständliche Miteinander aller Menschen zum Ziel hat.
Was hat sich durch die Einführung des „inklusiven Bildungssystems“ geändert?
Ich denke, die Inklusion kann eine große Chance sein. Sie ermöglicht es vielen Menschen mit Autismus, von den Gleichaltrigen zu profitieren und auch Schulabschlüsse zu machen, die andernfalls so nicht unbedingt möglich wären. Aber die Inklusion ist nicht nur für Menschen mit Behinderungen da, sondern für die ganze Gesellschaft. Auch die nichtbehinderten Mitschüler profitieren. Es wird künftig ein bisschen selbstverständlicher werden, Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Notwendig dafür ist jedoch eine gute finanzielle und personelle Ausstattung.
Man darf aber nicht vergessen, dass die Inklusion nicht in jedem Fall sinnvoll und möglich ist. Es gibt autistische Menschen, die nicht davon profitieren und für die es besser sein kann, eine separate Schule zu besuchen. Es ist daher wichtig, die Förderschulen nicht vollständig abzuschaffen, damit nicht einzelne Schüler übrig- und damit auf der Strecke bleiben als die Verlierer in einem inklusiven Schulsystem, in dem es eigentlich keine Verlierer mehr geben sollte.
Was bedeutet für Sie persönlich Glück und Lebenszufriedenheit?
Ich habe herausgefunden, dass ich an freien Tagen vor allem dann zur Ruhe komme und Glück empfinde, wenn ich drei Aspekte kombinieren kann: Genuss bzw. Entspannung, Aktivität und die dosierte sinnvolle Tätigkeit, z.B. an meinen Projekten zum Thema Autismus. Im Gegensatz zu früher bin ich viel aktiver, gehe häufiger aus und habe deshalb auch öfter die Möglichkeit, schöne Erfahrungen zu machen. Ich bin offener geworden und viel interessierter an meiner Umgebung. Und wenn ich so mit offenen Augen durch die Gegend laufe, erkenne ich viel Schönes, was mir Freude macht.
Wichtig sind mir auch Routinen und Rituale, die verlässlich wiederkehren. Auch dadurch erklärt sich wohl meine Liebe zum Weihnachtsfest. Ganz egal, ob es mir gut geht oder eher nicht, ob ich müde, traurig oder glücklich, gesund oder krank bin – es wird in jedem Jahr aufs Neue Weihnachten. Für jeden Menschen und auch für mich. Das hat etwas ungeheuer Tröstliches. Und das ist die Eigenschaft von Routinen und Ritualen ganz allgemein. Deshalb sind sie gerade für autistische Menschen ungeheuer wichtig.
Ein sehr großes Glück war es für mich auch, eine schwere Erkrankung überwinden zu dürfen, die mich für einige Monate völlig außer Gefecht setzte. Ich hatte Angst, weil ich fürchtete, die Lebensfreude und die Aktivität, die ich mir über Jahre hinweg mühsam erkämpft hatte, wieder zu verlieren. Aber gleichzeitig erkannte ich allmählich auch die ungeheure Kraft, die man aus solch schwierigen Situationen ziehen kann. Das Leben wurde mir irgendwie kostbarer als vorher, ich bin nun dankbar, wenn ich morgens aufwache und mich gut fühle, denn ich weiß jetzt, dass das keineswegs selbstverständlich, sondern ein großes Geschenk ist. Ich bin insgesamt vielleicht nicht mehr so unbekümmert wie früher, aber ich habe vieles gewonnen, vor allem die alltägliche Dankbarkeit, wenn die Menschen, die mir wichtig sind, gesund bleiben. Dagegen ist alles andere zweitrangig.
Ich kann in meinem Beruf arbeiten und erlebe auch bei meinen Vorträgen viele schöne Momente. Inzwischen kann ich trotz aller Schwierigkeiten ein schönes und erfülltes Leben führen. Ich habe liebe Eltern und Therapeutinnen, die mich schon seit vielen Jahren unterstützen, wofür ich unendlich dankbar bin. Und deshalb, aus all diesen Gründen, darf ich mich in meinem Leben über mangelndes Glück eigentlich nie wieder beschweren.
Wir bedanken uns recht herzlich für Ihre Zeit und Mühe!
Das Interview führte Celestina Filbrandt.
Christine Preißmann
Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus
2., aktual. Auflage 2021. 184 Seiten. Kart.
€ 29,–
ISBN 978-3-17-039142-0
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