Im wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kontext beschreibt Komplexität ganz allgemein eine Situation, in der eine Vielzahl und Vielfalt von teilweise intransparenten und hochgradig interdependenten Faktoren einerseits für eine Komplexitätslast, andererseits aber auch für ein Komplexitätspotenzial sorgen. In diesen schlecht strukturierten, intransparenten und schnell veränderlichen Situationen ist es Aufgabe des Managements, eine Kongruenz von Last und Potenzial herzustellen und auf diesem Weg heuristische Lösungsansätze zu liefern.
Dies gelingt in vielen Konstellationen durch eine aufeinander abgestimmte Vereinfachung der Komplexitätslast und eine Anreicherung der menschlichen und technischen Potenziale zu deren Handhabung. Damit ist das Thema Komplexitätsmanagement wiederum selbst komplex angelegt. Das erforderliche ganzheitliche Know-how für den Umgang mit komplexen Managementsituationen, insbesondere die konzeptionellen Grundlagen sowie die praktischen Anwendungen, vermittelt das Fachbuch „Komplexitätsmanagement. Grundlagen und Anwendungen“.
Wir nehmen dies zum Anlass, mit dem Autor, Professor Dr. Michael Reiss, ein kurzes Gespräch zu führen.
Michael Reiss
Komplexitätsmanagement
Grundlagen und Anwendungen
2020. 220 Seiten. Kart. Ca. € 30,–
ISBN 978-3-17-035593-4
Der Komplexitätsbegriff wird inzwischen inflaÂtionär gebraucht und es hat sich im ManagementÂkontext fast zur Floskel entwiÂckelt, zunächst auf die wachÂsende KompleÂxität einer SituaÂtion hinzuÂweisen. Ist das berechÂtigt oder nur eine ModeÂerscheiÂnung?
Alles andere als eine Floskel ist der Verweis auf KompleÂxität schlicht deshalb, weil bestimmte reale EntwickÂlungen wie z.B. WachsÂtum von WirtÂschaftsÂleistung und BevölÂkerung, InterÂnatioÂnaliÂsierung, Diversity, Wandel und VolatiÂlität, vernetzÂte statt verketÂtete WertÂschöpÂfungsÂprozesse, ManiÂpuÂlation von InforÂmaÂtionen oder InnoÂvationsÂwettÂbewerb in einer gestieÂgenen KompleÂxitätsÂlast münden. Das gilt auch für KompleÂxitätsÂanreiÂcheÂrungen bei den KompleÂxitätsÂpotenÂzialen, etwa SpeiÂcher-, VerarÂbeiÂtungs- und ÃœbertraÂgungsÂkapaziÂtäten in der InforÂmationsÂtechnoÂlogie oder ToleÂranz und MehrÂsprachigÂkeit bei den MitarÂbeitern.
Den CharakÂter einer ManageÂment-Mode hat der VerÂweis auf KompleÂxität hinÂgegen dann, wenn „KompleÂxität“ losgeÂlöst von inhaltÂlichen ErkläÂrungsÂansätzen, als LückenÂbüßer oder als pauÂschale ErklärungsÂvariable genutzt wird. Dagegen spricht nicht zuletzt die TatÂsache, dass es so etwas wie „die“ KompleÂxität gar nicht gibt. Faktisch müssen sich Manager jeweils mit verschieÂdenen DimenÂsionen und DomäÂnen der KompleÂxität beschäfÂtigen, deren HandÂhabung sehr unterÂschiedÂliche MaßÂnahmen und KompeÂtenzen erfordert.
Komplex ist also nicht mit kompliziert gleichzusetzen – oder?
„Kompliziertheit versus KompleÂxität“ – in der Tat ein KlassiÂker. Allerdings hat es sich gezeigt, dass man mit dieser DiffeÂrenzieÂrung bestenÂfalls eine SackÂgasse ausleuchÂtet. VorhanÂdene, teilÂweise mehrÂdeutige DiffeÂrenzieÂrungsÂansätze können nicht überÂzeugen: Das gilt zum einen für die Modelle der DemarÂkation eines kompliÂzierten Kontexts (viele und vielÂfältige Elemente, deren ZusammenÂwirken bekannt ist) von einem kompleÂxen Kontext aus teilÂweise unbeÂkannten ElemenÂten, die in nicht vorherÂsagÂbarer Weise interÂagieren. Das gilt gleiÂcherÂmaßen für die Modelle einer SteiÂgeÂrung, etwa über die Stufen „einfach“, „kompliÂziert“, „komplex“ und „chaotisch“, bei denen echtes KompleÂxitätsÂmanageÂment erst auf einer hohen SchwieÂrigkeitsÂstufe stattÂfindet. TatÂsächÂlich erstreckt sich das KompleÂxitätsÂmanagement auf mehrere DimenÂsionen der KompleÂxität, die durch viele, vielÂfältige, unscharf speziÂfizierte und inÂtransÂparent interÂagieÂrende Elemente defiÂniert sind. Der Verbund zwischen diesen DimenÂsionen sorgt mitÂunter für eine KumuÂlation, etwa wenn („kompliÂzierte“) hybride Mischungen von KoopeÂration und KonkurÂrenz („CoopeÂtition“) zu („kompleÂxer“) AmbiguÂität und VolatiÂlität dieser GeschäftsÂbezieÂhungen führen.
Gibt es allgeÂmeine ErkenntÂnisse, die eine FührungsÂkraft beherÂzigen sollte, um im Sinne des KompleÂxitätsÂmanagements effekÂtiv zu wirken?
Lange Zeit wurden die ErkenntÂnisse zu genau einer LeitÂidee verdichÂtet, dem Kampf gegen KompleÂxität, den Manager nur durch VereinÂfachen gewinnen können. Seltener wurde das KontrastÂprogramm propagiert, etwa die KompleÂxitätsÂanreiÂcherung durch mehr DiverÂsität und mehr Wandel. Beide LeitÂbilder bergen jedoch das Risiko der FehlÂorienÂtierung. Deutlich besser ist die PerforÂmance von FührungsÂkräften, wenn sie einem diffeÂrenzierÂten LeitÂbild folgen, bei dem sie einen AusÂgleich von KompleÂxitätsÂlasten und KompleÂxitätsÂpotenÂzialen anstreben. Dafür können sie auf ErkenntÂnisse in Gestalt zahlÂreiÂcher Muster und ProzeÂduren eines derart ausÂgewoÂgenen KompleÂxitätsÂmanagements zurückÂgreifen, etwa auf eine stufenÂweise UmsetÂzung, auf geschichÂteten Wandel oder einen Mix aus Time Pacing und Event Pacing von InterÂventionen.
Die DigitaliÂsierung und hier vor allem Big Data und KünstÂliche IntelÂligenz werden auch als ein SchlüsÂsel für erfolgÂreiches KompleÂxitätsÂmanageÂment in der Zukunft angeÂsehen – sehen Sie diese Chancen ebenfalls?
Digitalisierung eignet sich zweifelÂlos als breitÂbandig einsetzÂbares PotenÂzial zur KompleÂxitätsÂbewälÂtigung. Dennoch handelt es sich aus der KompleÂxitätsÂperspekÂtive dabei nicht um ein AllÂheilÂmittel. Dagegen spricht zunächst die EigenÂkompleÂxität der DigiÂtaliÂsieÂrung, etwa WiderÂstände im Gefolge einer digiÂtalen SpalÂtung (der GesellÂschaft) oder der Gefahr einer TotalÂüberÂwachung (Big Data = Big Brother). Hinzu kommen zahlÂreiche KlärungsÂbedarfe, beiÂspielsÂweise hinsichtÂlich des ZusamÂmenÂspiels von menschÂlicher und künstÂlicher IntelÂligenz (z.B. beim autoÂnomen Fahren oder bei autoÂmatiÂsierÂten WaffenÂsysÂtemen) und der PerforÂmance, etwa von KosÂten und NutÂzen eines InterÂnets der Dinge und Dienste. Diese ErkläÂrungsÂmodelle kann das KompleÂxitätsÂmanageÂment allein nicht bieten.
Darüber hinaus muss das DigiÂtaliÂsierungsÂmanageÂment etwa durch eine Ethik der KünstÂlichen IntelÂligenz erÂgänzt werden, vor allem durch inhaltÂlich speziÂfiÂzierte WertÂvorstelÂlungen und RegelÂinfraÂstrukÂturen wie z. B. die EU-DatenÂschutz-GrundÂverordÂnung. BemerÂkensÂwert ist in diesem ZusammenÂhang, dass zu deren KonzepÂtion auch ein KompleÂxitätsÂansatz beiÂtragen kann, etwa wenn die WertÂvorstelÂlungen durch KompleÂxitätsÂmerkÂmale wie TransÂparenz, FairÂness (keine BenachÂteiliÂgung spezielÂler Nutzer) und AufÂsicht durch neutrale DrittÂparteien defiÂniert werden.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
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